Zwei Familien, die sich gefunden haben
Seit mehreren Wochen wohnen die Ukrainer Olga und Ivan mit ihren Kindern bei der Familie Monnerat in Hagendorn (ZG). Eine Wohngemeinschaft, die gut funktioniert. Der «Schweizer Gemeinde» haben die Familien aus ihrem Alltag erzählt.
Simone Monnerat hat gerade verschiedene Packungen mit Getreide aus der Küche geholt: Haferkleie, Buchweizen und Dinkel. Gemeinsam mit Olga versucht sie, das deutsche Wort für ein ukrainisches Getreidegericht herauszufinden. Es gelingt ihnen nicht restlos – aber man sieht beiden an, dass ihnen das Fachsimpeln über die Sprache Freude macht. Sie sprechen Französisch miteinander, eine Sprache, die die Familie Monnerat gut beherrscht und Olga an der Universität studiert hat.
Die Ukrainerin wohnt mit ihrem Mann Ivan und den beiden Kindern seit Anfang März im obersten Stock des Hauses der Monnerats in Hagendorn (ZG). Ihren Nachnamen möchten die Geflüchteten lieber nicht in der «Schweizer Gemeinde» lesen. Aber sie erzählen von ihrer Reise in die Schweiz und dem Zusammenleben mit der Gastfamilie.
Per Zufall in der Schweiz
Dass Olga und Ivan in Hagendorn gelandet sind, ist reiner Zufall. Als Russland die Ukraine angriff, weilte Ivan für seine Arbeit im Ausland. Olga und die Kinder reisten bald aus dem ostukrainischen Charkiw zu ihm, und über Umwege gelangten sie nach Norditalien zu Verwandten. Dort konnten sie jedoch nicht bleiben. Sie meldeten sich im nahe gelegenen Chiasso im Bundesasylzentrum an.
Danach ging alles schnell. Nur gerade drei Tage war die Familie im Zentrum in Chiasso, bis sie an die Gastfamilie vermittelt worden war und zu ihr zog. Den Schutzstatus S erhielt sie innerhalb weniger Tage; die Kinder konnten bereits nach weniger als einer Woche im Kanton Zug zur Schule gehen. «Am Freitagmorgen haben wir das Formular in der Schule abgegeben, am Dienstag konnten die Kinder zur Schule gehen», erinnert sich Simone Monnerat.
Mittlerweile haben Olga und Ivan Arbeit gefunden, über Freunde der Monnerats. Sie betreuen geflüchtete ukrainische Kinder mit Beeinträchtigungen an einer Schule in der Nähe. Olga hat bereits in der Ukraine als Lehrerin für Kinder mit Beeinträchtigungen gearbeitet. «Ich bin sehr froh, dass wir arbeiten können», sagt Olga.
«Wir haben den Platz»
Für die Familie Monnerat war rasch klar, dass sie sich als Gastfamilie zur Verfügung stellen möchte. «Der Krieg hat uns sehr bewegt», erzählt Simone Monnerat. «Wir haben uns gesagt: Warum nicht, wir haben den Platz, um Geflüchtete aufzunehmen.» Die Monnerats haben zuvor bereits im Ausland gelebt, haben Erfahrungen mit WGs und gern Leute um sich. Die Familie registrierte sich bei Campax, einer Organisation, die mit der Schweizerischen Flüchtlingshilfe zusammenarbeitet. Rund drei Wochen dauerte es, bis der Bescheid kam, dass eine passende Familie gefunden wurde. «Diese Zeit war gut, so konnten wir uns vorbereiten», sagt Simone Monnerat.
«Unsere Tochter hat mir gerade heute gesagt, dass sie es cool findet, andere Leute zu Hause zu haben», sagt Alban Monnerat. Es passt auch, weil die Kinder von Olga und Ivan im selben Alter sind wie die Kinder der Monnerats – während des Besuchs der «Schweizer Gemeinde» bemalen die beiden Töchter zusammen Vasen. Und auch die Eltern verstehen sich gut. «Nach dem ersten Abend habe ich zu meinem Mann gesagt: Das ist eine Familie genau wie wir, nur dass sie in Charkiw gelebt hat und wir hier. Es ist wirklich ein Glücksfall.»
Ein Glücksfall war für die beiden Familien auch der Kontakt mit den Behörden. «Es ging alles sehr schnell und war relativ unkompliziert», sagt Simone Monnerat. Die Familien erhielten nach wenigen Tagen Besuch von der Caritas Luzern, die im Kanton Zug Gastfamilien betreut. «In unserem Fall gibt es keine Probleme, aber es ist sicher gut, eine Ansprechperson ausserhalb der Familie zu haben, falls es zu Unstimmigkeiten kommen sollte.»
Jetzt ergeben sich für die Familien aber neue Fragen. Wie ist es zum Beispiel mit den Versicherungen, jetzt wo Olga und Ivan Arbeit gefunden haben? «Die Gemeinde Cham hat uns eben gerade eine konkrete Ansprechperson zugeteilt, und wir hoffen, dass sie uns dabei unterstützen kann», sagt Simone Monnerat.
Spaghetti zum Frühstück
Die beiden Familien schlossen im Vorfeld einen Vertrag zum Zusammenleben ab. Zu Konflikten kam es bisher aber kaum. «Wir sind Erwachsene und können miteinander sprechen», sagt Olga. Simone Monnerat fügt hinzu: «Wir lassen einander auch einfach machen.» Das sei wichtig, denn die Gewohnheiten sind teils doch anders. Gerade beim Essen, wie Olga mit einem Lachen sagt. Die Ukrainerinnen und Ukrainer haben nicht viel für Schweizer Birchermüesli und Konfibrot zum Frühstück übrig. Bei ihnen isst man salzig am Morgen: zum Beispiel Reis oder Spaghetti.
Simone Monnerat hat angefangen, Ukrainisch zu lernen, um besser mit der Familie kommunizieren zu können. Bis sie nach einigen Wochen gemerkt hat: Olga und Ivan sprechen gar nicht Ukrainisch, sondern Russisch miteinander. So wie viele Ukrainerinnen und Ukrainer aus dem Osten des Landes. Beide sprechen aber ebenfalls Ukrainisch – und Simone Monnerat verfolgt ihre Sprachstudien vorerst weiter.
So bald wie möglich nach Hause
Trotz der guten Zeit, welche die Familien miteinander verbringen: Olga und Ivan möchten so bald wie möglich wieder nach Hause. «Wir haben eine Katze und einen Hund, aber die mussten wir bei meinen Eltern lassen, es wäre sonst zu kompliziert geworden», sagt Olga. Und sie erinnert sich daran, dass sie noch zwei Christbäume in der Wohnung stehen hat. Sie lässt sie immer gerne lange stehen und wollte mit deren Entsorgung warten, bis Ivan aus dem Ausland zurückgekehrt war. Doch dann brach der Krieg aus. «Ich weiss wirklich nicht, in welchem Zustand wir unsere Wohnung antreffen werden, wenn wir zurückkommen», sagt sie.
Olga hält auch an ihrem Psychologiestudium fest. Wegen der Covid-Pandemie hat sie dieses bereits online begonnen und kann nun von der Schweiz aus damit weiterfahren. Die Professoren sind noch immer in Charkiw. «Manchmal höre ich bei einer Vorlesung Explosionen im Hintergrund», sagt sie. «Die Professoren sagen uns, wir sollen dranbleiben, wenn die Internetverbindung unterbricht. Sie haben ein Notfall-Wifi eingerichtet.» Sie fügt an: «Unsere Professoren sind die wahren Helden.»
Sie ist überzeugt: Mit dem Krieg gibt es in der Ukraine einen grossen Bedarf an Psychologinnen und Psychologen. «Wir haben Projekte für die Zukunft. Aber momentan nehmen wir jeden Tag so, wie er kommt. Wir müssen uns immer wieder neu anpassen.»
Caritas: «Wir spüren viel Engagement und Wohlwollen»
Claudia Wilhelm ist Leiterin Integrationsangebote bei Caritas Luzern. Die Organisation unterstützt Gastfamilien, die Geflüchtete aufnehmen.
Claudia Wilhelm, welche Rolle spielt Caritas Luzern in der aktuellen Flüchtlingskrise?
Claudia Wilhelm: Wir haben eine Leistungsvereinbarung mit dem Kanton Zug abgeschlossen zur Begleitung von Personen und Familien, die ukrainische Geflüchtete bei sich aufnehmen wollen. Wir beantworten Fragen zum Alltag und zum Zusammenleben, sind Ansprechpartner, falls es zu Problemen kommt, und schliessen mit beiden Parteien eine Vereinbarung zum Zusammenleben ab. Wir führen Erstgespräche mit interessierten Familien und besuchen sie, sobald die ukrainischen Gäste eingetroffen sind. Das machen wir, um sicherzustellen, dass die Konditionen für die Aufnahme der Geflüchteten stimmen. Dazu gehört auch, einen Strafregisterauszug der Gastgeber zu verlangen. Auch Umplatzierungen unterstützen wir.
Am Anfang war die Solidarität gross, viele Gastgeberinnen und Gastgeber haben sich gemeldet. Wie sieht das jetzt aus?
Es gibt einige wenige Familien, die es sich anders überlegt und ihr Angebot zurückgezogen haben. Wir spüren aber immer noch ein grosses Engagement. Darüber sind wir sehr froh, denn gerade im Raum Zug ist der Wohnraum knapp.
Welches sind die grössten Herausforderungen für Gastfamilien?
Es ist ein längerfristiges Engagement: Wir verlangen, dass die Menschen sich bereit erklären, jemanden mindestens drei Monate lang bei sich aufzunehmen. Ein längerer Zeitraum wäre noch besser. Man muss sich bewusst sein, dass man in einer Wohngemeinschaft lebt, und Lust haben, neue Leute kennenzulernen. Das braucht Zeit und vor allem Toleranz; und es braucht genug Raum, um Rückzugsmöglichkeiten für beide Parteien zu haben. Die Kommunikation kann schwierig sein; man hat vielleicht andere Gewohnheiten und Lebensrhythmen. Die Aufnahme von Geflüchteten ist aber auch eine grosse Chance.
Wie erleben Sie die Zusammenarbeit mit Kanton und Gemeinden?
Wir spüren sehr viel Engagement und Wohlwollen gegenüber den Geflüchteten. Die Zusammenarbeit funktioniert sehr gut. In den Gemeinden gibt es viele bestehende Angebote für Geflüchtete. Die Herausforderung besteht nun darin, dass sehr viele Menschen kommen und die Strukturen sehr rasch ausgebaut werden müssen.