Zu Fuss unterwegs zwischen Agglomeration, Stadt und Land
An der Grenze zu Frankreich gelegen, ist Meyrin im Kanton Genf heute Heimat für 26 000 Menschen aus 140 Nationen. Wie das gelingt? Die Gemeinde nutzt ihre baukulturellen Qualitäten, um Identität zu schaffen.
Die Gemeinden in der Schweiz sind unter Druck: Sie sollen Standortförderung betreiben, Arbeitsplätze schaffen und erhalten, Wohnungen für Menschen aller Alters- und Einkommensklassen bieten – aber auch Erholungsräume und Orte der Begegnung. Globale Megatrends wie die Digitalisierung, der Klimawandel oder die alternde Gesellschaft haben ebenfalls konkrete Auswirkungen im Lokalen. Ein Ort mit einer besonderen Ausgangslage ist die Genfer Gemeinde Meyrin: Bis Mitte des 20. Jahrhunderts war der Ort mit rund 2000 Einwohnerinnen und Einwohnern landwirtschaftlich geprägt. Der historische Ortskern, gut gepflegt und belebt mit öffentlichen Nutzungen, zeugt noch heute davon. Doch durch den Bau des internationalen Flughafens Cointrin ab 1920 und vor allem durch die Ansiedelung der Europäischen Organisation für Kernforschung (CERN) 1954 veränderte sich das Bild der Gemeinde in den folgenden Jahren massiv.
Vom Dorf zur Satellitenstadt
Die neu geschaffenen, zum Teil hoch spezialisierten Arbeitsplätze zogen Menschen aus aller Welt an. Der Bau der ersten Satellitenstadt der Schweiz, der «Nouvelle Cité», war direkte Reaktion auf die drohende Wohnungsnot. Ganz im Sinne der Moderne entstanden bis zu 13-geschossige Wohnbauten mit grosszügigen Grünräumen. Weitblick bewies die Gemeindeverwaltung jedoch schon damals. Denn die reine Erstellung von Wohnraum schafft noch kein Heimatgefühl. Parallel investierte Meyrin in den 1960er-Jahren stark in öffentliche Infrastruktur. So wurden Räume für Sport- und Kulturanlässe erstellt, aber auch die Gründung von zahlreichen Vereinen wurde unterstützt.
Heute besteht Meyrin aus Quartieren mit verschiedenen Qualitäten. Das neueste ist das «Écoquartier Les Vergers», dessen 1350 Wohnungen Platz für 3000 Einwohnerinnen und Einwohner bieten. Das Bevölkerungswachstum hat sich etwas verlangsamt, dafür rücken andere Thematiken in den Vordergrund. Die energetische Sanierung der «Nouvelle Cité» behält die städtebaulichen Qualitäten der Siedlung bei, während bauliche Verdichtung hauptsächlich durch Aufstockungen realisiert wird. Die bestehenden Grünräume werden durch Verkehrsberuhigungen und landschaftliche Projekte aufgewertet.
Mehr als ein Strassenbauprojekt
Ein solches Projekt ist die Route de Prévessin – ein Spazierweg für Fussgänger und Velofahrerinnen, der zwischen Landschaft und Agglomeration vermittelt. Das im Rahmen des Agglomerationsprojekts «Paysage 2012» entwickelte Projekt führt entlang verschiedenartiger bestehender Freiräume und sensibilisiert die Anwohnerinnen und Anwohner der Agglomeration für die landschaftlichen Eigenheiten vor der eigenen Haustür: Felder, Wälder, Pärke, Bauernhöfe.
Konkret wird die Breite der Strasse verringert, um die Geschwindigkeit der Nutzenden zu senken. Bordsteine und Schikanen werden entfernt, um den Charakter von Landstrassen wiederherzustellen. Von neu installierten Bänken können Erholungsuchende den Blick in die Landschaft schweifen lassen. Das alte Zollhaus wird umgestaltet und ist nun Versammlungsraum mit Picknickplatz. Weitere Elemente wie Weidezäune, ein Holztisch mit Kalksteinbänken, ein Trinkwasserhahn oder eine Wildheckenpflanzung stärken den ländlichen Charakter der Landschaft und schützen gleichzeitig die landwirtschaftlichen Kulturen. Bis jetzt ist ein erstes, 800 Meter langes Wegstück als Teil einer Gesamtvision realisiert, in deren Zentrum ein konfliktfreies Miteinander von Einwohnerinnen und Einwohnern, Landwirtschaft und Landschaft steht.
Auch in Meyrin geschieht ein solches Vorhaben nicht von alleine, wie Eric Cornuz, Stadtrat von Meyrin, erzählt. Es brauchte viel Überzeugungsarbeit, um die grenzüberschreitende Landstrasse, die täglich von etwa 6000 Fahrzeugen befahren wurde, für den Autoverkehr zu schliessen. Doch für die Gemeinde standen die Aufwertung der Landschaft und der Schutz der Biodiversität klar im Vordergrund.
Abstrakte Vorgaben in lokale Innovationen verwandeln
Im Kanton Genf haben seit den 1970er-Jahren öffentliche und private Trägerschaften Vorgehensweisen, Mittel, Projekte und Massnahmen entwickelt, um die Erhaltung und die Aufwertung des ländlichen Raums zu ermöglichen. Denn die Mischung aus Stadt mit internationaler Ausstrahlung und gut erhaltenem ländlichem Raum mit zahlreichen Landwirtschafts- und Weinbaubetrieben ist ein besonderes Merkmal des Kantons.
Noch heute trägt diese Anstrengung Früchte: Der Richtplan des Kantons beinhaltet ein «Koordinationsblatt Landschaft», das eine landschaftsverträgliche Planung vorschreibt. Mit diesem Instrument gelingt es, die baukulturellen Qualitäten von Orten zu stärken und sie als identifikationsstiftende Werte für aktuelle und künftige Generationen zu erhalten.
Baukulturberatung.ch
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