
Wie Gemeinden neue Dorfzeitungen lancieren können
Das Beispiel Alttoggenburg zeigt: Neue Technologien ermöglichen neue Lösungen für «News-Wüsten» in den Regionen. Dank der Schweizer Softwareschmiede Spatz produziert eine Gewerbevereinspräsidentin im ländlichen Sankt Gallen eine Dorfzeitung – in nur vier Stunden pro Woche, aber nach journalistischen Kriterien.
Plötzlich ging alles sehr schnell. Ende Mai 2024 starteten die «Alttoggenburg News» den Betrieb – heute ist die digitale Dorfzeitung in den vier St. Galler Gemeinden Bütschwil-Ganterschwil, Kirchberg, Lütisburg und Mosnang das führende Dorfmedium. Die Region hat wieder eine eigene Zeitung, die ihre Themen abbildet: die Diskussion ums Hallenbad, die Triumphe der Radballer, die Fasnachtsumzüge und die Probleme mit den Zufahrtsstrassen. Ein Käseblatt sind die «Alttoggenburg News» aber überhaupt nicht. Dahinter stecken viel Software und lokale Handarbeit.
Jeden Donnerstag erhalten mittlerweile über 1000 Abonnenten die wichtigsten lokalen News, Leserbriefe, Kleinanzeigen und die Wochenagenda. Direkt zugestellt wie einst die Zeitung, aber eben via Mail und Whatsapp und kostenlos. Jeder der kurzen Texte wird von einer lokalen Person ausgewählt und geprüft – nach journalistischen Qualitätskriterien. Ein genauso hochmodernes wie traditionelles Dorfblatt – und das in einer Region, die zuvor lange kein unabhängiges Medium hatte. News von zu Hause waren Mangelware, seit der altehrwürdige «Alttoggenburger» vom «St. Galler Tagblatt» geschluckt und 2015 eingestellt worden war.

Den Zusammenhalt stärken
Ins Alttoggenburg, eine ländliche Region im Ostschweizer Dreieck zwischen Wil, Herisau und Wattwil, gelockt hat das Projekt der innovationsbegeisterte vormalige Schulpräsident Max Gmür. Gmür hatte es satt, täglich im Netz nach News aus seiner Heimatregion regelrecht schürfen zu müssen. Als Behördenmitarbeiter und Politiker war es schwierig, Ideen zu lancieren. Korrespondenten sah er immer seltener vor Ort. Gmür wusste, dass darunter alle litten. Vereine, das politische Leben – der Zusammenhalt wie die direkte Demokratie beruhen darauf, dass die Bewohner wissen, was zu Hause läuft. Dann hörte Gmür über einen Exiltoggenburger von einem Zürcher Entwicklerteam namens Spatz, das daran arbeite, Lokaljournalismus digital wiederzubeleben. Im April 2024 rief Gmür an.
«Wir suchten nach einer Testregion. Was Max uns erzählte, hat uns fasziniert», sagt Spatz-Initiator Hannes Grassegger. Der vielfach prämierte Journalist hat sich dem Kampf gegen Fake News verschrieben. «Dort, wo niemand mehr Fakten prüft, alle auf Social Media und Messaging Apps etwas weiterleiten, blühen erst die Gerüchte, dann bröckelt der Zusammenhalt.» So etwas schade der Gemeinschaft. Von Mosnang, wo Gmür wohnte, sind die nächsten Redaktionen 15 Fahrminuten entfernt. «News-Wüste nennt man so etwas», sagt Grassegger. Er aber sah darin genau, was er suchte: Eine überschaubare Region mit starkem Gemeinschaftsleben – aber ohne eigenes Medium. Zusammen mit der Präsidentin des Mosnanger Gewerbevereins beschloss man, ein Experiment zu starten.

Andrea Gmür (nicht verwandt mit Max Gmür) ist als Co-Leiterin der Bibliothek Mosnang, Mitinhaberin von Carrosserie Spritzwerk Gmür, freie Musikgeragogin und als dreifache Mutter neben der Vereinstätigkeit ziemlich eingespannt. Aber eine gute Dorfzeitung, die es ihrem ansässigen Gewerbe ermöglichen würde, die lokale Kundschaft zu erreichen, das reizte sie. Grassegger wiederum suchte nach jemandem, der sich in der Region auskennt. Einen halben Tag pro Woche hätte sie, erklärte Andrea Gmür. Mehr nicht.
«Mit Spatz ist die Produktion einer Dorfzeitung so einfach wie einen Facebook-Post zu erstellen.»
Einfache Technik, fachkundige Unterstützung
Grassegger hatte die Anschubfinanzierung vom Migros-Pionierfonds und der Stiftung Mercator Schweiz organisiert. Innerhalb weniger Wochen programmierte Spatz-Entwicklungsleiter Mauro Bieg, der für Spatz eine Stelle als Techchef bei Tamedia verlassen hatte, eine Software, die für Andrea Gmür mit künstlicher Intelligenz aktuelle Infos aus der ganzen Umgebung zusammenträgt. Dazu schuf er eine Website, auf der die Alttoggenburger ganz einfach Events, Artikel und Leserbriefe einreichen können. Grassegger schrieb der journalistisch unerfahrenen Gewerbevereinspräsidentin eine Bedienungsanleitung, mit der sie alle eingegangenen Artikel neutral und objektiv auswählen und prüfen kann. Dank der einfachen Technik und des Supports können nun selbst unerfahrene Laien ein hochwertiges Nachbarschaftsblatt betreiben. Und wegen der geringen Herstellungskosten liesse sich die Dorfzeitung künftig durch lokale Anzeigen und Mitgliedschaften finanzieren, sagt Grassegger.
In nur drei bis vier Stunden pro Woche stellt Andrea Gmür nun die Ausgaben der «Alttoggenburg News» zusammen. «Mit Spatz ist die Produktion einer Dorfzeitung so einfach wie einen Facebook-Post zu erstellen», sagt Gmür. «Zeitung machen kann jetzt jeder.»
Gemeinden gesucht
Dem Mosnanger Gemeindepräsidenten Renato Truniger (SVP) gefällt das Projekt: «Ich träume schon länger von einem Medium fürs Toggenburg.» Dank seiner Vermittlung konnte Spatz-Initiator Grassegger vor den vier Alttoggenburger Gemeindepräsidenten vorsprechen. Diese verzeichneten seit dem Wegbruch ihrer Lokalzeitung explodierende Kosten für die Information der Bevölkerung. Bütschwil-Ganterschwil unterstützt Spatz mit Werbefläche im Gemeindeblatt. Da Spatz-News die Abonnenten zufliegen, sucht Spatz neue Regionen. In Versoix am Genfersee betreibt Spatz eine Dorfzeitung auf Französisch und Englisch. Mit dem Gewerbevereinspräsidenten von St. Margrethen, Marc Wilmes, will Spatz nun «Spatz Unterrheintal» starten.
