«Wenn alle gemeinsam an einem Strick ziehen, wird es eine gute Sache»
Meldet sich ein Kind im Rollstuhl zur Einschulung an, stehen Gemeinden plötzlich vor einer Herausforderung. Denn: Viele ältere Schulbauten weisen zahlreiche Treppen und Stufen auf.
Robins Noten waren hervorragend. Im Herbst 2019 zeigte sich klar, dass der 11-jährige Bub es von der Mittelstufe Untersiggenthal in die Bezirksschule nach Turgi schaffen würde – von der dreigliedrigen Oberstufe im Kanton Aargau, ist die Bezirksschule derjenige Schultyp mit den höchsten Anforderungen. Doch nach anfänglicher Freude folgte schnell die Ernüchterung – Robin ist aufgrund einer Muskelerkrankung auf den Elektrorollstuhl angewiesen. Viele Unterrichtszimmer in Turgi waren nicht hindernisfrei zugänglich.
In dieser Situation wandte sich die Gemeinde Turgi an die Abteilung Bauen von Procap Schweiz. Procap berät als grösste Selbsthilfeorganisation für Menschen mit Behinderung betroffene Personen und Behörden in solch schwierigen Situationen. Die Bauberater von Procap entwickelten in Zusammenarbeit mit der Gemeinde Turgi eine Lösung, die teilweise von der IV mitfinanziert werden konnte. Die realisierten beiden Vertikallifte ermöglichen es Robin nicht nur, die Schule zu besuchen, sondern bieten auch viele weitere Synergien, wie nachfolgende Interviews zeigen:
Urs Wilhelm vom Departement Bildung, Kultur und Sport des Kantons Aargau (BKS), Abteilung Volksschule:
Seit wann gibt es das integrative Schulmodell im Kanton Aargau?
Urs Wilhelm: Das integrative Schulmodell gibt es bei uns bereits seit dem Jahr 2000. Heute wird der Begriff jedoch nicht mehr verwendet, weil er die Andersartigkeit betont. Seit 2020 sprechen wir nur noch von Regelschule und Sonderschule. Die Regelschule ist der Normalfall für alle zu Beschulenden, auch für Schülerinnen und Schüler mit körperlicher, sensorieller und kognitiver Einschränkung.
Was bedeutet diese Umstellung für die Volksschule?
Die Schulung und Förderung von Kindern und Jugendlichen mit einer Behinderung hat Auswirkungen darauf, wie der Unterricht und der Schulbetrieb organisiert werden müssen, auch in Zusammenarbeit mit Fachpersonen. Wichtig für einen Erfolg ist die Einstellung der Lehrpersonen, allenfalls muss die Schulleitung daran arbeiten.
Wie unterstützt der Kanton die Schulbehörden in den Gemeinden bei der Umsetzung?
Im Aargau gibt es einen behinderungsspezifischen Beratungs- und Begleitdienst für Schülerinnen und Schüler. Der Kanton hat dazu eine Leistungsvereinbarung mit der Organisation ZEKA, die als Bindeglied zwischen Schule und Schülern sowie Eltern funktioniert. Für die bauliche Infrastruktur der Regelschulen sind die Gemeinden verantwortlich.
Weshalb ist es wichtig, dass Schülerinnen und Schüler nach Möglichkeit nicht aus dem gewohnten sozialen Umfeld herausgerissen und in Regelschulen am Wohnort beschult werden?
Das Leben besteht nicht nur aus Beruf und Schule, sondern beinhaltet auch Freundschaften, soziale Teilhabe und gesellschaftliche Einbindung. Ein ausgewogenes Verhältnis ist hierbei wichtig für die emotionale Entwicklung junger Menschen. Eine Schule in gewohnter Umgebung besuchen zu können, kommt dabei eine entscheidende Rolle zu.
Kennen Sie die Problematik vieler bestehender Schulbauten, die nur über Treppen erschlossen sind?
Es ist uns klar, dass viele ältere Schulhäuser nach anderen Richtlinien gebaut worden sind, entsprechend den damaligen pädagogischen Lehren und basierend auf den gesellschaftlichen Auffassungen und technischen Standards. Es ist darum wichtig, dass sich die Gemeinden mit der Bewirtschaftung und Entwicklung ihrer baulichen Infrastruktur auseinandersetzen, um im Fall der Einschulung eines Kindes mit Behinderungen bereit zu sein.
Adrian Schoop, Gemeindeammann von Turgi, und Marius Schneider, Schulleiter von Turgi:
Wie haben Sie erfahren, dass Robin bei Ihnen in die Bezirksschule kommen soll?
Markus Schneider und Adrian Schoop: Im Frühling 2019 hat unsere Schulleitung vom ZEKA erfahren, dass Robin im Sommer 2020 aus der Nachbargemeinde Untersiggenthal in die Bezirksschule nach Turgi kommen möchte und auf einen Elektrorollstuhl angewiesen ist. Deshalb hatten wir nur wenig Zeit, uns darauf einzustellen.
Warum dieses Schulhaus? Hätte es eine andere Möglichkeit für Robin gegeben?
Es standen in der Region drei Bezirksschulen zur Disposition. Die meisten Schülerinnen und Schüler der Bezirksschule aus Untersiggenthal gehen nach Turgi, somit war es auch der Wunsch der Eltern, dass Robin mit seinen Klassenkameraden nach Turgi kommt. Unser Schulhaus ist eine dreigeschossige Anlage aus den siebziger Jahren mit rollstuhlgängigem Erdgeschosszugang, die Geschossverbindungen ins UG und OG bestanden jedoch ausschliesslich aus Treppen. Das Schulhaus in Obersiggenthal hatte zwar einen Warenlift, es wäre jedoch eine aufwendige Umrüstung auf Personentransport nötig gewesen, und Wettingen ist zwar rollstuhlgängig, jedoch am weitesten entfernt. Für uns war nicht vorstellbar, dass man Robin nur wegen des Rollstuhls als einzigen Schüler aus Untersiggenthal nach Wettingen schicken würde, und somit suchten wir eine Lösung bei uns in Turgi.
«Entscheidend sind eine klare Kommunikation und Transparenz zwischen Eltern, Lehrern und Behörden».
Was haben Sie in diesem Prozess gelernt?
Entscheidend sind eine klare Kommunikation und Transparenz zwischen Eltern, Lehrern und Behörden. Wenn alle gemeinsam an einem Strick ziehen, wird es eine gute Sache. Für unsere kleine Gemeinde war die grösste Herausforderung die kurzfristige Finanzierung.
Thomas Fritschy, Bauverwaltung der Gemeinde Turgi:
Sie sind als Bauverwalter auch für die gemeindeeigenen Liegenschaften zuständig. Wie wurden Sie in den Fall einbezogen, und wie sind Sie danach vorgegangen?
Thomas Fritschy: Im Spätsommer 2019 wurde ich von der Schulleitung orientiert, dass im August 2020 ein Schüler aus Untersiggenthal in die Bezirksschule eintreten soll. Ich wusste, dass das Schulhaus nicht rollstuhlgängig ist. Mein erster Gedanke deshalb: Wie gehen wir jetzt vor? Ich habe darum umgehend die Bauberatungsstelle von Procap kontaktiert. Ich kenne die Fachstelle aus meiner Tätigkeit als Bauverwalter und weiss, dass die Architektinnen und Architekten von Procap sehr gut Bescheid über bauliche Anpassungen für Menschen mit Behinderung wissen.
Wie ist es zum Entscheid gekommen, einen Vertikalplattformlift einzubauen?
Die Architektin von Procap hat uns vor Ort die verschiedenen Varianten von Treppenliften und Vertikalliften erklärt. Mit Treppenliften hatte ich bereits Erfahrung aus meiner vorhergehenden Tätigkeit und wusste, dass diese für Materialtransporte nicht geeignet sind.
In der Offertphase mit dem Liftbauer hat sich gezeigt, dass Vertikalplattformlifte viele Vorteile haben und in unserem Fall nur unwesentlich mehr kosten: Sie fahren schneller, jegliche Transporte für Personen und Material sind möglich, und der Personendurchgang auf der Treppe wird nicht eingeschränkt.
Wie war der ganze Ablauf beim Umbau?
Procap hat die Abklärung mit der IV koordiniert, worauf die SVA Aargau Anfang 2020 einen Kostenbeitrag für zwei Treppenlifte gutsprechen konnte. Den nicht budgetierten Mehrpreis konnten wir mittels Gemeinderatsbeschluss ins laufende Budget integrieren. Wichtig war auch, dass Procap uns einen erfahrenen Architekten für den Umbau empfehlen konnte – wir sind für solche Dinge zu wenig spezialisiert.
Was haben Sie aus diesem Prozess gelernt? Können Sie eine Empfehlung für andere Bauverwalter oder Liegenschaftsverantwortliche abgeben?
Als Liegenschaftsverantwortlicher der Gemeinde sollte man frühzeitig wissen, wo bauliche Massnahmen erforderlich sind. Im Idealfall kennt man den zukünftigen Schüler bereits mehrere Jahre vorher. Der Worst Case hingegen ist, wenn eine Familie kurzfristig zuzieht und ein Kind im Rollstuhl zur Einschulung anmeldet.
Das grösste Problem für mich war die nicht geplante, kurzfristige Finanzierung. Hier sollte der Kanton den Gemeinden mehr Hilfestellung leisten, etwa mit einem Ausgleichsfonds. Dann könnten Gemeinden unkompliziert Geld beziehen und die Rückzahlungen ins zukünftige Budget aufnehmen.
Es ist zudem wichtig, dass bei Neubauten, Umbauprojekten und Gebäudeanalysen dem hindernisfreien Bauen Beachtung geschenkt wird. Hier kann ich den Beizug von Procap als Partner empfehlen, denn mit dieser Hilfe können Situationen richtig analysiert und zweckmässige Umsetzungen konzipiert werden.
Fabian Schwitter, Hausdienst der Gemeinde Turgi
Wie haben Sie reagiert, als sie hörten, die IV würde zwei Treppenlifte für Robin finanzieren?
Fabian Schwitter: Ich kenne Treppenlifte und bin davon nicht begeistert. Sie fahren langsam und sind nur für sitzende Personen geeignet. Robin hätte zirka drei Minuten gebraucht, um ein Geschoss zu überwinden. Eine zu lange Zeit, um in kurzen Pausen die Schulzimmer zu wechseln. Der Einbau von Vertikalliften war in diesem Fall mein Wunsch, die grossen Treppenaugen waren für diese Lösung prädestiniert.
Wie wurden Sie bei der Evaluation der Vertikalplattformlifte einbezogen?
Ich war bereits an der ersten Sitzung dabei. So konnte ich meine Vorstellungen einbringen.
Wie bewähren sich die Lifte im Schulbetrieb? Was bringt die jetzt bestehende Lösung für Sie als Hauswart?
Die Lifte laufen sehr gut. Robin kann dank der automatischen Türen und einer Steuerung am Rollstuhl die Anlage selbstständig benutzen. Der Vertikallift dient auch unserem Hausdienst. Früher mussten wir zu zweit die Reinigungsmaschine hochtragen. Heute kann eine Person diese transportieren, dadurch wird unsere Arbeit rationeller. Und dasselbe gilt natürlich auch für anderen Warentransport.
Würden Sie heute irgendwas anders wollen?
Nein. Für uns alle ist es die optimale Lösung.
Procap betreibt direkt oder in Zusammenarbeit mit Partnerorganisationen in jedem Kanton eine Bauberatungsstelle.
Die Hilfsmittelversorgung der Invalidenversicherung
Heute müssen neu gebaute oder sanierte Schulhäuser nach den Massgaben der Norm SIA 500 «Hindernisfreie Bauten» ausgeführt werden. Probleme bestehen jedoch bei vielen älteren Schulhäusern, in denen Treppen die einzige Vertikalerschliessung bilden. Der Lift setzte sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg in öffentlichen Bauten durch, wobei man von einem Einsatz bei Schulen aus unterschiedlichen Gründen noch lange absah. Hinzu kommt, dass viele dieser Anlagen heute denkmalgeschützt sind und in ihrer Struktur erhalten werden müssen. In solchen Situationen verfügt die Invalidenversicherung über die Möglichkeit, die Ausbildung von Schülerinnen und Schülern zu fördern. Wichtig ist zu verstehen, dass es sich bei IV-Gutsprachen nicht um Subventionen handelt, sondern um personenbezogene Hilfsmittel. Der Antrag an die IV muss deshalb von der versicherten Person gestellt werden. Die einzelnen Massnahmen sind im «Kreisschreiben über die Abgabe von Hilfsmitteln durch die Invalidenversicherung» (KHMI) aufgeführt; bauliche Massnahmen wie Treppenlifte, Rampen, Hebebühnen, Türautomaten und WC-Anpassungen werden dabei unter den Hilfsmitteln subsumiert. Bei verschiedenen Varianten kann sich die IV nur mit der günstigsten Lösung beteiligen, im Fall von Robin mit einem Kostenbetrag für zwei Treppenlifte. Die Mehraufwendungen für die beiden Vertikallifte musste die Gemeinde Turgi übernehmen.