Martin Widmer ist Leiter Netzdesign Post und Gemeindepräsident von Ossingen. Für ihn hat der kommunale Widerstand gegen Filialschliessungen viel mit dem emotionalen Wert zu tun, den die Poststelle im Dorf hat.

Von 770 auf 600 Filialen: Wie sieht die Grundversorgung von morgen aus?

14.08.2024
7-8 | 2024

Ende Mai hat die Post angekündigt, den Bestand an eigenbetriebenen Filialen weiter zu reduzieren, von derzeit etwa 770 auf noch 600 Poststellen bis zum Jahr 2028. Was der Wegfall einer eigenbetriebenen Postfiliale für eine Gemeinde bedeutet und wie die Post ihrem Grundversorgungsauftrag trotzdem nachkommen will, erklärt Martin Widmer im Interview. Widmer leitet bei der Post den Bereich Netzdesign – und ist gleichzeitig Gemeindepräsident des Zürcher Dorfs Ossingen.

Martin Widmer, die Post bewegt sich in einem steten Spannungsfeld zwischen Wirtschaftlichkeit und Service public. Wo legt sie den Schwerpunkt in diesem Spagat?

An beiden Orten. Wir haben einen Grundversorgungsauftrag, den wir erfüllen müssen und wollen. Auf der anderen Seite müssen wir diesen Service public selbst finanzieren. Diese wirtschaftliche und die soziale Verantwortung können sich manchmal durchaus in die Quere kommen.

Deshalb der nun angekündigte Abbau von 170 weiteren eigenbetriebenen Filialen – um zu sparen?

Ich spreche lieber von Umbau statt von Abbau. Durch die Umwandlung in Partnerfilialen oder die Einführung eines Hausservices haben wir die Zahl der Zugangspunkte zur Post in den letzten zehn Jahren deutlich ausgebaut, von rund 3500 auf 5000. Aber ja: Je stärker die Erträge im Briefgeschäft sinken, desto grösser wird unsere Finanzierungslücke. Es ist kein Geheimnis, dass der Betrieb einer Partnerfiliale die Post günstiger zu stehen kommt als eine eigenbetriebene Poststelle.

«Die wirtschaftliche und die soziale Verantwortung können sich manchmal durchaus in die Quere kommen.»

Martin Widmer, Leiter Netzdesign Post

Hinzu kommt die Digitalisierung, die nicht plötzlich stoppen wird. Muss man davon ausgehen, dass die Zahl der nun angekündigten 600 eigenbetriebenen Poststellen irgendwann weiter reduziert wird?

Wie viele Poststellen es braucht, hängt davon ab, wie sich Kundenverhalten und Technologie entwickeln. Vor 30 Jahren hätte sich niemand vorstellen können, dass man Rechnungen einst mit zwei Klicks selbst bezahlen kann. Wie es in 30 Jahren aussehen wird, kann niemand sagen. Was wir sagen können, ist, dass wir bis 2028 auf 600 eigenbetriebene Poststellen gehen möchten, und dass wir ein Gerüst aufrechterhalten werden, in dem die Post in verschiedenen Formen erreichbar ist.

Dieses Gerüst, steht es vor allem in den Städten und Agglomerationen?

Uns ist wichtig, dass wir in der ganzen Schweiz in vernünftiger Distanz erreichbar bleiben. Wir werden also zum Beispiel auch im Val Müstair und in der Ajoie eigene Filialen betreiben, aber nicht mehr in der gleichen Dichte wie heute, das ist klar. Umbauten werden stattfinden, sowohl in der Peripherie als auch in den Zentren. Unser Ziel ist eine nationale Ausgewogenheit.

Die Post baut nun 170 weitere eigenbetriebene Filialen ab oder eben um. Anhand welcher Kriterien wählen Sie die betroffenen Poststellen aus?

Wenn ich die Poststelle in Müstair einer Filiale in Zürich gegenüberstelle, können die Frequenzen unmöglich gleich sein. Wir betrachten deshalb lieber die Entwicklung der Frequenzen als die absoluten Zahlen. Auch schauen wir uns an, wie sich die postalische Versorgungslage in der ganzen Region präsentiert. Wirtschaftlichkeit spielt natürlich ebenfalls eine Rolle, zudem gibt es gesetzliche Vorgaben an die Erreichbarkeit. Wir wägen also zwischen verschiedenen Faktoren ab.

In Ossingen, wo Sie Gemeindepräsident sind, ist die Post im Volg untergebracht. Wie zufrieden sind Sie mit dieser Lösung?

Sehr. Ein grosser Vorteil sind die Öffnungszeiten: Berufstätige, die auswärts arbeiten und abends zurück ins Dorf kommen, haben nun auch in Randzeiten einen Zugang zu rund 90 Prozent unserer Dienstleistungen. Das können wir in eigenbetriebenen Filialen kaum bieten. Aber auch der Dorfladen selbst profitiert von Synergien, indem Postkunden kommen, die gleichzeitig vielleicht noch das Abendessen einkaufen.

Weshalb wehren sich viele Gemeinden denn, wenn die Post die Schliessung der eigenbetriebenen Filiale ankündigt?

Ich sehe dafür zwei Gründe. Einerseits die politische Einschätzung vor Ort. Es ist völlig nachvollziehbar, dass der Gemeinderat reagieren muss, wenn eine IG oder eine Ortspartei anfängt, Unterschriften zu sammeln.

«Wir werden auch im Val Müstair und in der Ajoie Filialen betreiben, aber nicht mehr in der gleichen Dichte.»

Martin Widmer, Leiter Netzdesign Post

Und andererseits?

Zweitens hat das Ganze auch viel mit dem emotionalen Wert einer Poststelle zu tun. Die Post wurde vor 175 Jahren als nationales Verbindungswerk gegründet. Die Poststelle im Dorf ist sichtbarer Ausdruck davon, dass man dazugehört, und hat oft Symbolcharakter. Man kämpft um die Schule, um Läden und Beizen … und dann geht auch noch die Post. Da spielen sicher Verlustängste hinein. Ich kann das ein Stück weit nachvollziehen. Unsere Erfahrungen zeigen jedoch: Im Moment der Umstellung kann Unruhe entstehen. Wenn man aber zwei Jahre später nachfragt, hören wir meist, dass alles gut funktioniert. Deshalb vielleicht ein Appell an meine Kolleginnen und Kollegen in den Gemeinderäten: Die besten Lösungen findet man nicht, indem man das Gespräch verweigert, sondern indem man das Gespräch führt.

Fabio Pacozzi
Leiter Kommunikation
Schweizerischer Gemeindeverband