Verheerende Naturgewalt: Im Maggiatal (TI) begräbt ein Murgang einen guten Teil des Örtchens Fontana.

Vieles bleibt ungewiss – doch die verwüsteten Dörfer blicken nach vorne

16.10.2024
10 | 2024

Nach starken Regenfällen in der zweiten Junihälfte sind die Pegel der Schweizer Bäche und Seen vielerorts hoch; die Böden mit Wasser vollgesaugt. Gleichzeitig hört es nicht auf zu regnen. Besonders im Berggebiet kommt es daraufhin zu Überschwemmungen und Murgängen, mehr als zehn Personen verlieren ihr Leben. Teilweise werden ganze Ortschaften von Geröllmassen weggerissen. Was bedeutet ein solches Unglück für die betroffenen, meist kleinen Gemeinden, und wie blicken sie in die Zukunft?

Das Bündner Dorf Lostallo im Misox besteht aus den Weilern Lostallo, Sorte, Cabbiolo und Arabella – und aus rund 15 Bergbächen, die am 21. Juni allesamt Geröll ins Tal schieben, wie Gemeindepräsident Nicola Giudicetti erklärt. Fatal geht das Unwetter für den Weiler Sorte aus: Hier zerstören Geröll und Schutt drei Häuser komplett, andere werden bis in den zweiten Stock überschwemmt. Das Dorf beklagt drei Todesopfer; eine vermisste Person kann tags darauf gerettet werden.

45 Kilometer Luftlinie weiter westlich kommt es im Tessiner Maggiatal zu einer noch grösseren Katastrophe. In den Tälern Val Bavona und Val Lavizzara beschädigen Murgänge und Überschwemmungen über 100 Gebäude, ein guter Teil des kleinen Weilers Fontana im Val Bavona existiert nicht mehr. Acht Menschen sterben – «die Intensität, mit der das Geröll herunterkam, ist unvorstellbar», sagt Timo Cadlolo, Sekretär der Associazione dei Comuni valmaggesi (ASCOVAM).

Auch im Walliser Dorf Saas-Grund schwellen die Bergbäche am 29. Juni nach starkem Regen weiter an. Nach Mitternacht tritt der Triftbach schliesslich über die Ufer und flutet das Dorf mit Geröll und Geschiebe. Die Infrastruktur des höher gelegenen, sich mehrheitlich in Gemeindebesitz befindlichen Skigebiets wird in Mitleidenschaft gezogen, während sich der Geröllkegel unten im Dorf bis zu fünf Meter hoch auftürmt, wie Gemeindepräsident Bruno Ruppen weiss. Auch hier werden Häuser und Hotels zum Teil schwer beschädigt; eine Person kommt ums Leben.

«Die Intensität, mit der das Geröll herunterkam, ist unvorstellbar.»

Timo Cadlolo, Sekretär Associazone dei Comuni valmaggesi

Schutzbauten müssen redimensioniert werden

Die drei Beispiele – es gäbe noch mehr – zeigen: Gegen eine entfesselte Naturgewalt hat der Mensch auch heute noch das Nachsehen. Auch, wenn die Schutzmassnahmen verschiedentlich durchaus gegriffen haben. In Lostallo etwa hat ein Schutzdamm den grössten Murgang erfolgreich am Dorf vorbeigeleitet. Andernfalls wären die teilweise mannshohen Felsen mit der gleichen Wucht wie im benachbarten Weiler Sorte durch das Dorf gepflügt.

In Saas-Grund wiederum erwies sich der Geschiebesammler als deutlich zu klein: Derzeit vermag er rund 1000 Kubikmeter Geschiebe aufzunehmen; bereits vor dem Unglück war eine Vergrösserung auf 17 000 Kubikmeter geplant. «Nach jetzigem Erkenntnisstand kamen aber bis zu 70 000 Kubikmeter herunter. Wir müssen das Projekt also nochmals redimensionieren. Bis das realisiert ist, wird es voraussichtlich Ende des Jahrzehnts», sagt Gemeindepräsident Bruno Ruppen.

«Bis der neue Geschiebesammler realisiert ist, wird es voraussichtlich Ende des Jahrzehnts.»

Bruno Ruppen, Gemeindepräsident Saas-Grund (VS)

Klar ist für alle: Bereits geplante Projekte sollen nicht zurückgestellt werden, auch wenn der Fokus nun zuerst auf Sicherungs- und Schutzmassnahmen sowie auf der Wiederherstellung von existenziellen Infrastrukturen wie der Wasserversorgung liegen muss. Die Gemeinden hoffen dabei auch auf die Unterstützung der Kantone, denn Schutzmassnahmen gegen den Klimawandel würden je länger, je dringender, wie ASCOVAM-Sekretär Timo Cadlolo in Erinnerung ruft. «Das gilt natürlich nicht nur für das Maggiatal. Das nächste Mal kann es woanders passieren.»

Wirtschaftliche Konsequenzen noch ungewiss

Noch nicht klar bezifferbar sind derzeit die finanziellen Schäden, die die Unwetter angerichtet haben. Da die Feinräumung – zum Beispiel des Kulturlands – noch läuft und die Reparaturarbeiten teilweise Jahre in Anspruch nehmen werden, sind noch lange nicht alle Rechnungen bei den Gemeinden eingetroffen. Zudem ist oft noch unklar, was und wie viel die Versicherungen übernehmen, welche Massnahmen von Bund und Kanton übernommen werden und wie viel Institutionen wie fondssuisse oder die Glückskette beisteuern.

 

Die Gemeinden haben auf ihren Websites deshalb Spendenkontos eingerichtet, wobei die dort eingehenden Gelder natürlich auch der betroffenen Bevölkerung zugutekommen. Im Maggiatal wiederum haben die Gemeinden die Kampagne «Ricostruiamo insieme la Bavona e la Lavizzara» ins Leben gerufen, für deren Erfolg man auf grosszügige Unterstützung aus den Schweizer Gemeinden hofft. Schliesslich ermutigen die Betroffenen explizit dazu, die betroffenen Regionen zu besuchen und so die Bevölkerung und die Wirtschaft zu unterstützen.

«Das Leben muss weitergehen», sagt etwa Nicola Giudicetti. In Lostallo trifft das zumindest auf die Weiler Lostallo, Cabbiolo und Arabella zu. Die Einwohnerinnen und Einwohner von Sorte, die am rechten Flussufer gelebt haben, sind zum Zeitpunkt des Interviews Mitte September hingegen weiterhin evakuiert – wie und ob der Dorfteil jemals wieder bewohnt werden kann, ist noch unklar.

«Das Leben muss weitergehen.»

Nicola Giudicetti, Gemeindepräsident Lostallo (GR)

Text: Fabio Pacozzi
Leiter Kommunikation
Schweizerischer Gemeindeverband