Stadtpräsident von Rapperswil-Jona: «Manche Themen brauchen einfach Zeit»
Rapperswil-Jona (SG) ist die grösste Stadt in der Schweiz mit Bürgerversammlung. Bereits zweimal wurde die Einführung eines Parlaments abgelehnt, das letzte Mal im März 2023. Das Hauptargument der Gegnerinnen und Gegner war: der Verlust der direkten Mitsprache. Stadtpräsident Martin Stöckling sagt, dass aufgrund von gesellschaftlichen Veränderungen der politische Meinungsbildungsprozess nicht mehr richtig funktioniere.
Es war ein denkwürdiger Tag für Rapperswil-Jona (SG): Am 12. März 2023 lehnten die Stimmberechtigten die Einführung eines Parlaments ab. Das Resultat war knapp. Bei einer Stimmbeteiligung von 45,3 Prozent waren 4355 Stimmberechtigte dagegen (51,7 Prozent) und 4065 Stimmberechtigte dafür. Der Stadtrat und alle Ortsparteien waren damals für ein Parlament gewesen.
«Der Entscheid zeigt exemplarisch, was das Problem für den Stadtrat bei einer Stadt unserer Grösse mit einer Bürgerversammlung ist», sagt Stadtpräsident Martin Stöckling (FDP). «Es fehlen Echokammern, die uns qualitative Rückmeldungen aus der Bevölkerung liefern.» Sie hätten zwar im Vorfeld Informationsveranstaltungen und ein Mitwirkungsverfahren durchgeführt. An Letzterem nahmen auch viele Einwohnerinnen und Einwohner teil und sprachen sich grossmehrheitlich für ein Parlament aus. «Diese Rückmeldungen geben aber anscheinend kein belastbares Meinungsbild», sagt Stöckling. Ein parlamentarischer Prozess hätte diese Problematik entschärft, ist er überzeugt. «Vorlagen, die von Parlamentarierinnen und Parlamentariern überprüft und allenfalls überarbeitet werden, haben eine viel grössere Chance, mehrheitsfähig zu sein.»
Vorlagen zu wenig breit abgestützt
Die Gegnerinnen und Gegner des Parlamentsbetriebs befürchteten vor allem den Verlust der direkten politischen Mitsprache. Zudem würde der gesamte politische Prozess langsamer und komplizierter, und Parteien würden noch stärker nur aus Eigeninteresse handeln. Stadtpräsident Martin Stöckling kennt diese Argumente, er hat sie ebenfalls vertreten. Das war 2015, als die Bürgerversammlung die Schaffung eines Parlaments schon einmal ablehnte. Damals präsidierte Stöckling noch das gegnerische Komitee.
Zwei Jahre später wurde er zum Präsidenten der seit 2007 fusionierten Stadt Rapperswil-Jona gewählt. Mittlerweile hat er seine Meinung zum Thema geändert. «Es gibt gesellschaftliche Tendenzen, die sich in den vergangenen Jahren verstärkt haben. Der Einfluss der Parteien hat abgenommen und die Mediennutzung hat sich verändert. Der politische Meinungsbildungsprozess funktioniert nicht mehr richtig», sagt er. Die Vorlagen des Stadtrats seien zu wenig breit abgestützt, und es werde immer schwieriger, herauszufinden, wo es Kompromisse brauche, um eine mehrheitsfähige Lösung zu finden. «Die heutigen Partizipationsverfahren können den parlamentarischen Meinungsbildungsprozess auf Dauer nicht ersetzen.»
«Die heutigen Partizipationsverfahren können den parlamentarischen Meinungsbildungsprozess auf Dauer nicht ersetzen.»
Gossau (SG) schaffte Bürgerversammlung vor 23 Jahren ab
Rapperswil-Jona ist mit seinen 28 000 Einwohnerinnen und Einwohnern die grösste Stadt in der Schweiz mit Bürgerversammlung. Es gibt Städte und Gemeinden mit einer weitaus kleineren Einwohnerzahl, welche die Bürgerversammlung abgeschafft und ein Parlament eingeführt haben. So wie Gossau (SG). Die Stadt zählt rund 18 000 Einwohnerinnen und Einwohner und hat seit 2001 ein Parlament. Die 30 Mitglieder treffen sich durchschnittlich siebenmal pro Jahr, um über politische Geschäfte zu diskutieren und zu entscheiden.
Für Urs Salzmann, Kommunikationsbeauftragter der Stadt Gossau, hat das Parlament den Vorteil, dass die Exekutive durch die Anzahl vorgegebener Sitzungstermine mehr Möglichkeiten hat, der Legislative Geschäfte zu unterbreiten. Zudem diskutierten die Fraktionen und die vorberatende Kommission eine Vorlage vertiefter, als es beim Modell Bürgerversammlung möglich ist, und es sei schwieriger, Abstimmungsergebnisse durch eine Mobilisierung von Stakeholdergruppen zu beeinflussen. Doch es gibt auch Nachteile. Wegen der parteipolitischen Zusammensetzung sei die Gefahr grösser, dass Geschäfte «ver(partei)politisiert» werden, so Salzmann. Und: «Ein Teil der Bürgerschaft wird von politischen Themen sicher mehr distanziert, da viele Entscheide im Parlament gefällt werden und nur noch wenig an die Urne kommt.» Seit der Einführung des Parlaments habe es jedoch keine politischen Vorstösse gegeben, um das Parlament abzuschaffen.
«Ein Teil der Bürgerschaft wird von politischen Themen sicher mehr distanziert, da viele Entscheide im Parlament gefällt werden.»
Gute Chancen bei einem nächsten Mal
Der Stadtrat von Rapperswil-Jona respektiert den Volkswillen und sieht die Bürgerversammlung als direktdemokratisches Instrument bestätigt. Dennoch dürfte das Thema Parlamentsbetrieb nicht abgeschrieben sein. Bei der Abstimmung 2023 fehlten den Befürwortern lediglich 300 Stimmen, vor neun Jahren trat die Bürgerversammlung nicht einmal auf die Diskussion ein. Stadtpräsident Martin Stöckling glaubt, dass die Vorlage bei einem nächsten Versuch gute Chancen hätte. Allerdings sei es nicht opportun, dass die Behörden einen erneuten Anlauf starteten, ein solcher müsste aus der Bevölkerung kommen. «Es gibt Themen, die brauchen Zeit.» Und mehrere Anläufe. Bei Gossau klappte die Parlamentseinführung im vierten Versuch.