Nach Brienzer Felssturz: «Die Solidarität war sehr gross»
Die Rutschung oberhalb des Dorfes Brienz bewegte im Frühsommer die ganze Schweiz. Die Situation war für die Gemeinde Albula, in der Brienz liegt, eine grosse Herausforderung. Gemeindepräsident Daniel Albertin im Interview.
Die Brienzerinnen und Brienzer konnten Anfang Juli in ihre Häuser und Wohnungen zurückkehren. Wie ist die Lage momentan, Daniel Albertin?
Für unsere Verhältnisse ist die Lage relativ ruhig. Der Berg wird natürlich weiterhin eng überwacht. Der Gemeindeführungsstab ist noch aktiv.
Der Hang, in dem das Dorf liegt, rutscht bereits seit Jahrzehnten. Wann wurde klar, dass die Lage akut wird?
In den letzten Jahrzehnten rutschte das Dorf jeweils rund 5 bis 8 Zentimeter pro Jahr. 2017 zeigten Messungen plötzlich innerhalb weniger Monate Bewegungen von bis zu 40 Zentimetern. Da war klar, dass wir uns auf ein grösseres Ereignis vorbereiten und Massnahmen ergreifen müssen. Seither wird der Berg sehr engmaschig überwacht. Zusätzlich wurde der Sondierstollen, der vor zwei Jahren rund 630 Meter in den Felsen vorangetrieben wurde, mit etlichen Messinstrumenten ausgestattet. Die Rutschungen am Berg mit dem Teilbereich der Insel haben uns aber überrascht, es ging alles viel schneller als erwartet – bis sich die Insel in der Nacht auf den 16. Juni mit 1,2 Millionen Kubikmetern entleerte. Das war für die Gemeinde trotz guter Vorbereitung eine Herausforderung.
Wer war an den Vorbereitungen beteiligt?
Neben der Gemeinde war der Gemeindeführungsstab beteiligt, in dem die Blaulichtorganisationen vertreten sind, sowie der technische Dienst, der Forst und das Amt für Zivilschutz des Kantons Graubünden. Zudem der Vorsorgestab des Kantons, in dem Vertreter der Infrastrukturen des Kantons mit dabei sind, wie die Rhätische Bahn, das kantonale Tiefbauamt sowie Swissgrid und Elektrizitätsgesellschaften, deren Leitungen durch das Gebiet verlaufen.
Wie liefen die Vorbereitungen ab?
Wir haben bereits seit 2018 unterschiedliche Szenarien vorbereitet und immer wieder durchgespielt. Wir haben ein grundsätzliches Abspieldispositiv, das wir auf unterschiedliche Szenarien angepasst haben: einen grossen Bergsturz oder eine Teilrutschung sowie weitere mögliche Ereignisse. Während der Vorbereitung haben wir uns manchmal gefragt, ob es wirklich nötig ist, alles so genau im Detail zu planen. Im Nachhinein muss ich aber sagen, dass sich dies ausbezahlt hat und auch darum alles gut abgelaufen ist. So wussten wir im Ernstfall genau, was zu tun war. Ein Beispiel: Die Absperrungen für die Kantonsstrasse standen seit drei Jahren neben der Strasse bereit. Als es dann so weit war, mussten wir nur hinfahren, die Absperrungen herausholen und aufstellen.
«Während der Vorbereitung haben wir uns manchmal gefragt, ob es wirklich nötig ist, alles so genau im Detail zu planen. Im Nachhinein muss ich sagen, dass sich dies ausbezahlt hat und auch darum alles gut abgelaufen ist.»
Im Vorfeld der Rutschung mussten die 85 Einwohnerinnen und Einwohner von Brienz sowie rund 120 Kühe und Rinder evakuiert werden. Wie verlief die Kommunikation mit der Bevölkerung?
Wir haben bereits in den Jahren zuvor regelmässig Informationsveranstaltungen durchgeführt, die auf reges Interesse gestossen sind. Monatlich hat die Gemeinde ein Bulletin zur Lage publiziert. Wir haben auch Sitzungen nur mit den Brienzerinnen und Brienzern durchgeführt, unter Ausschluss der Öffentlichkeit. So konnten die Bewohner Anliegen in einem kleineren, geschützten Rahmen vorbringen. Als es mit der Evakuierung konkret wurde, hat die Gemeinde Kontakt mit den Zweitheimischen in der Lenzerheide aufgenommen, um abzuklären, ob sie den Brienzerinnen und Brienzern Wohnungen zur Verfügung stellen können. In kurzer Zeit wurden uns 130 Wohnungen angeboten – also mehr, als Brienz Einwohner hat. Die Gemeinde nahm 14 Wohnungen für Evakuierte in Anspruch, der Rest der Brienzerinnen und Brienzer kam privat unter. Das Rindvieh konnten wir in Ställen in Cazis unterbringen – auch das sowie den Transport der Tiere hatten wir bereits lange im Voraus organisiert.
Brienz und die Gemeinde Albula/Alvra standen diesen Frühling und Frühsommer plötzlich im Fokus der Medien aus der ganzen Schweiz. Wie gingen Gemeinde und Bevölkerung mit den zahlreichen Medienanfragen um?
Die Bevölkerung wurde teilweise schon etwas überrumpelt von den Medien. Mitunter waren an die 30 Medienschaffende anwesend. Wir haben diese gesammelt informiert. Christian Gartmann kümmert sich für die Gemeinde um die Medienarbeit rund um den Brienzer Rutsch, sonst wäre das für uns als kleine Gemeinde nicht zu stemmen. Er beantwortet die Anfragen, soweit es geht, und ich als Gemeindepräsident beantworte Fragen, die eher politischer Natur sind.
Die Gemeinde hat ein Spendenkonto für die Evakuierten eingerichtet. Wie kam es dazu?
Wir haben das Spendenkonto Mitte April aufgeschaltet, sobald klar war, dass es wahrscheinlich eine Evakuierung geben wird. Die Solidarität war sehr gross; sowohl von Privatpersonen als auch von Gemeinden aus Graubünden und der ganzen Schweiz sind zahlreiche Spenden eingegangen. So konnten wir einfach und unkompliziert Soforthilfe leisten, als bei der Evakuierung ungeplante zusätzliche Kosten für die Brienzerinnen und Brienzer entstanden.
Wie geht es nun weiter mit Brienz?
Die Brienzerinnen und Brienzer, aber auch wir als Gemeinde hoffen, dass es am Berg ruhig bleibt und keine weiteren Evakuierungen nötig sind. Denn eine Evakuierung ist unglaublich belastend für die Betroffenen. In Planung ist derzeit ein 1650 Meter langer Entwässerungsstollen, der das Gebiet stabilisieren soll. Die Gemeindeversammlung stimmte am 14. Juli dem 40-Millionen-Franken-Projekt zu. Mitte August wird der Bündner Regierungsrat darüber entscheiden. Bund und Kanton werden rund 90 Prozent der Kosten des Stollens tragen. Weil Brienz derzeit eine Hangbewegung von mehr als zehn Zentimeter pro Jahr aufweist, steht es in einer sogenannten roten Zone, in der keine neuen Gebäude erstellt werden dürfen. Das ist schwierig für ein Dorf; Entwicklung ist kaum möglich. Wir hoffen, dass der Entwässerungsstollen für so viel Stabilität sorgt, dass Brienz wieder in der blauen Zone ist, was eine weitere Entwicklung des Dorfs möglich machen würde.
Gesteinsmassen machten vor dem Dorf halt
Im April 2023 informierte die Gemeinde Albula/Alvra, dass sich das Dorf Brienz auf einen Felssturz und eine nötige Evakuierung vorbereiten muss. Die Evakuierung wurde am 8. Mai abends angekündigt; bis zum 12. Mai abends mussten alle Einwohnerinnen und Einwohner das Dorf verlassen. Rund einen Monat später, in der Nacht auf den 16. Juni, löste sich ein gewaltiger Schuttstrom von der Bergflanke. Er machte einige Meter vor den ersten Häusern von Brienz halt. Am 4. Juli konnten die Brienzerinnen und Brienzer zurück in ihr Dorf. Zur Zeit des Redaktionsschlusses Anfang August gilt die Warnstufe Gelb. Das heisst, dass sich die Situation zwar beruhigt hat, eine erneute Evakuierung in den nächsten Wochen aber nicht ausgeschlossen werden kann.