Die Hafenstadt Romanshorn sammelte über ein Online-Tool Ideen und Bedürfnisse der Bevölkerung.

Mit Transparenz zur neuen Partizipationskultur

08.10.2022
10 | 2022

Die Fachhochschule OST hat ein partizipatives Vorgehen entwickelt, das eine Gemeinde nicht nur transparenter macht, sondern auch das kreative Potenzial der Bevölkerung erschliesst. Romanshorn hat dadurch viele neue Inputs gewonnen.

Der Informationsstand der Bevölkerung zu lokalpolitisch anstehenden Entscheidungen sinkt. Ein Grund ist das Schwinden der Lokalpresse, ein zweiter die zunehmende Mobilität und ein dritter die zunehmend gefühlten Schwierigkeiten in der Kommunikation zwischen Gemeinde und Bevölkerung. Gleichzeitig steigt die Komplexität kommunaler Herausforderungen. Eine stärkere Zusammenarbeit zwischen Bevölkerung, Vereinen, Institutionen, lokaler Wirtschaft und Gemeindepolitik sowie -verwaltung wird wichtiger. Doch wie kann eine Stadt oder Gemeinde das grosse Potenzial an innovativen Ideen, das in den Köpfen der Einwohnerinnen und Einwohner schlummert, am besten nutzbar machen?

Hier setzte ein eben abgeschlossenes, von Innosuisse gefördertes, interdisziplinäres Forschungsprojekt unter Leitung der OST – Ostschweizer Fachhochschule an (siehe Box). Gemeinsam mit vier Städten und Gemeinden wurde auf der Basis von praxiserprobten Modellen aus privatwirtschaftlichen Innovationsprozessen und jahrelanger Erfahrung aus kommunalen Mitwirkungsverfahren ein neuer Prozess mit dazugehörigem Online-Portal entwickelt. In der Hafenstadt Romanshorn wurde er erfolgreich prototypisch umgesetzt. In diesem Prozess werden die Bedürfnisse von Einwohnerinnen und Einwohnern transparent und systematisch aufgenommen, dargestellt und bearbeitet. Anliegen können jederzeit und unkompliziert bei der Gemeinde an einem zentralen Ort für alle sichtbar deponiert werden. Konkrete Umsetzungsideen werden gemeinsam mit der Bevölkerung angepackt. Die Barrieren zwischen der Bevölkerung und der Politik und der Verwaltung werden abgebaut.

Erfreulich hohe Beteiligung

Im Frühling 2022 wurde der erarbeitete Prozess in Romanshorn unter dem Titel «Zukunft Hafenstadt» ein erstes Mal prototypisch durchgeführt. In der ersten Phase «Offenes Ohr» konnte die Bevölkerung während eines Monats anhand weniger Fragen schnell und unkompliziert Bedürfnisse auf der Online-Plattform einreichen und über einen «Like-Button» ihre Unterstützung für ein Anliegen kundtun. «Es war aber auch wichtig, dass man analog am Prozess teilnehmen konnte, damit niemand von einer Teilnahme ausgeschlossen wird», sagt der Romanshorner Stadtpräsident Roger Martin. Dies geschah in der Hafenstadt mittels eines Talons im «Seeblick», einer in alle Haushalte verteilten Zeitschrift. Angedacht war vor dem Start der Plattform auch ein analoger Workshop, der aufgrund der Corona-Pandemie jedoch digital durchgeführt werden musste.

«Während des ganzen Prozesses musste nur einmal moderat eingegriffen werden, ansonsten wurden nur ernsthafte Bedürfnisse eingereicht», so Martin. Eingegangen sind in einem Monat mehr als 140 Bedürfnisse. «Mit so vielen Anliegen hatte ich nicht gerechnet. Das hat mich natürlich sehr gefreut, hat aber entsprechend Mehrarbeit generiert.»

Das interdisziplinäre Forschungsteam der OST – Ostschweizer Fachhochschule analysierte die eingegangenen Bedürfnisse unter Einbezug des Stadtpräsidenten und des Stadtschreibers und bereitete diese so auf, dass der Stadtrat an einem halbtägigen Workshop für die zweite Phase der «Ideenfindung» vier konkrete Fragestellungen an die Bevölkerung erarbeiten konnte:

  • Mit welchen Massnahmen können wir Romanshornerinnen und Romanshorner die Sauberkeit in Romanshorn verbessern?
  • Mit welchen Aktivitäten können wir Romanshornerinnen und Romanshorner unsere Stadt grüner und lebendiger machen?
  • Wie und mit welchen Massnahmen können wir die Wirtschaftsregion Romanshorn attraktiv weiterentwickeln?
  • Mit welchen Aktivitäten können wir in Romanshorn eine Kultur des Miteinanders und des Ermöglichens / Machens schaffen?

Jede dieser Ideensammlungen wurde durch das zuständige Stadtratsmitglied als «Götti» oder «Gotti» übernommen.

Biodiversität und Bootsplatz-App

Während der wiederum einen Monat dauernden Ideenfindungsphase gingen noch einmal rund 40 konkrete Ideen ein, von denen der Stadtrat nun bei acht die Umsetzung prüft. Einige Dinge konnten als «Quick Wins» sofort umgesetzt werden, etwa die Installation einer Webcam am Hafenbecken. Weiter werden eine Wettbewerbsausschreibung für die Gestaltung von naturnahen und biodiversen Privatgärten oder die Einrichtung von Wohnmobilstellplätzen für Touristen in Seenähe sowie die Einführung einer App als Vermittlungsplattform für die kurzfristige Nutzung von Bootsliegeplätzen in den gemeindeeigenen Häfen verfolgt.

Unterstützt werden soll künftig auch das Pflanzen von Bäumen bei Neubauten oder auf Parkplätzen von Grossverteilern. «Die Ideen zeigen sehr gut auf, dass Bürgerinnen und Bürger, die Wirtschaft sowie Politik und Verwaltung für eine innovative Stadt zusammenspannen müssen», sagt Stadtpräsident Martin. Die momentan nicht umgesetzten Ideen und eingegangenen Bedürfnisse sind dabei nicht verloren, sondern fliessen in einen «Wissensspeicher» ein, der jederzeit angezapft werden kann, oder sie werden in bereits geplante Vorhaben integriert.

«Die Ideen zeigen sehr gut auf, dass Bürgerinnen und Bürger, die Wirtschaft sowie Politik und Verwaltung für eine innovative Stadt zusammenspannen müssen.»

Roger Martin, Stadtpräsident von Romanshorn

Überführung in den Regelbetrieb

Ziel des Prozesses sind die Verstetigung des Einbezugs der Bevölkerung in die Gemeindeentwicklung und die niederschwellige Erschliessung des brachliegenden Kreativpotenzials in der Bevölkerung. Denn im Regelbetrieb wird das «Offene Ohr» jederzeit erreichbar sein, die Ideenfindungen können regelmässig durchgeführt oder auch gezielt als strategisches Instrument genutzt werden.

Durch die verstärkte Zusammenarbeit zwischen Politik, Wirtschaft und Bevölkerung wird das Verständnis für die Prozesse in Politik und Verwaltung gefördert. Wenn es gelingt, dass alle relevanten Akteure an einem Strick ziehen, kann eine neue kommunale Partizipationskultur entstehen. Der in Romanshorn erstmals getestete Prozess dient dabei als Werkzeugkasten, den jede Gemeinde nach ihren Bedürfnissen nutzen kann.

Das Forschungsprojekt «Neue Wege in der Partizipation durch Citizensourcing»

Im von der schweizerischen Agentur für Innovation Innosuisse geförderten Projekt der OST – Ostschweizer Fachhochschule und der liechtensteinischen IT-Firma FOGS AG wurde gemeinsam mit den Gemeinden Romanshorn (TG), Rüschlikon (ZH), Berg (SG) und Vaduz (FL) der neue Partizipationsprozess entwickelt. Nach der Analyse bestehender Innovationsprozesse aus der Privatwirtschaft, bereits durchgeführter E-Partizipationsprozesse und der bestehenden Prozesse in den Partnergemeinden wurde der neue Prozess erarbeitet und in Romanshorn erfolgreich prototypisch durchgeführt. Das Projektteam ist auf der Suche nach interessierten Gemeinden, die sich an der Weiterentwicklung des Prozesses hin zum Regelbetrieb beteiligen möchten.

Patrick Aeschlimann
Wissenschaftlicher Mitarbeiter
Projektleiter «Neue Wege in der Partizipation durch Citizensourcing»
OZG Zentrum für Gemeinden der OST – Ostschweizer Fachhochschule