«Mein Rückzug ist ein Kopfentscheid»
Drei Jahrzehnte lang war er Stapi, zwei Jahrzehnte Nationalrat, ein Jahrzehnt oberster Städter der Schweiz. Nun tritt das Solothurner Urgestein Kurt Fluri kürzer. Scheibchenweise. Zeit für ein Gespräch.
In Solothurn ist Kurt Fluri ein Phänomen. Siebenmal wählten ihn die Bürgerinnen und Bürger für vier Jahre zu ihrem Stadtpräsidenten. Nie stellten sich bei der Wählerschaft Ermüdungserscheinungen ein. «KuFlu», wie er in seiner Heimat genannt wird, hätte sich wohl auch 2021 problemlos wiederwählen lassen können. Wenn er denn gewollt hätte.
Doch den Ruf, nicht aufhören zu können, wolle er nicht erhalten, begründet Fluri seinen Rückzug aus dem Solothurner Gemeinderat. Es sei ja schon erstaunlich, dass er ihn während der vergangenen 28 Jahre nie habe hören müssen. «Ich bin letztes Jahr 66 Jahre alt geworden. Wenn ich noch eine Amtszeit gemacht hätte, wäre ich zum Schluss 70 gewesen. In der Schweiz ist das zumindest unüblich.»
Und deshalb zog sich der FDP-Mann nicht nur aus der Solothurner Stadtexekutive zurück. Nach dann 20 Jahren wird er sich nächstes Jahr auch nicht mehr zur Wahl in den Nationalrat stellen. Bereits vor knapp einem Monat gab Fluri zudem das Präsidium des Schweizerischen Städteverbands ab, das er seit 2013 innegehabt hatte.
Das ganze Jahr bezahlter Urlaub
«Ich hätte gerne noch weitergemacht. Jetzt aufzuhören, war ein reiner Kopfentscheid», sagt Fluri. Die Frage, ob er Mühe habe, loszulassen, beantwortet er deshalb mit einem knappen «Ja». Und loslassen muss er so einiges: Neben seinen Ämtern als Stadtpräsident und Nationalrat sind auf seiner Parlamentarierhomepage nicht weniger als 20 Mandate aufgeführt. Zudem ist Fluri fünffacher Vater. Kann man all diesen Verpflichtungen überhaupt gerecht werden?
«Mit zunehmendem Aufwand der öffentlichen Hand nimmt erstaunlicherweise auch die Unzufriedenheit der Bevölkerung zu.»
«Meine Frau hat die Familie gemanagt. Mit moderner Arbeitsteilung wäre das nicht möglich gewesen», gibt Fluri zu. Den zuweilen geäusserten Vorwurf, er habe zu viele Ämter angesammelt, um alle noch gewissenhaft ausüben zu können, lässt Fluri indes nicht gelten. «Für mich war die Politik immer etwas, das sämtliche Lebensbereiche umfasst.» Es sei daher nur folgerichtig, dass er vielfältig engagiert war.
Hinzu kommt, was ihm eigentlich alle politischen Wegbegleiter – ob Parteifreunde oder Gegner – bescheinigen: eine ausserordentliche Arbeitsmoral. Seine Normalarbeitstage von 8 bis 23 Uhr seien ihm «unheimlich» gewesen, sagt etwa der Solothurner Mitte-Ständerat Pirmin Bischof. Vom heutigen Bundespräsidenten und ehemaligen FDP-Fraktionschef Ignazio Cassis heisst es, er habe sich bei Sitzungen stets neben Fluri gesetzt, um auf dessen profunde Dossierkenntnisse zurückzugreifen. Und Fluri selbst sagte einmal, das Büro sei seine Zweitwohnung, Politik sein Hobby. «Ich habe das ganze Jahr bezahlten Urlaub.»
Politik fürs Schaufenster
Freilich war nicht aller Tage Urlaub. «Mit zunehmendem Aufwand der öffentlichen Hand nimmt erstaunlicherweise auch die Unzufriedenheit der Bevölkerung zu», sagt Fluri. 1985, als er erstmals in den Solothurner Gemeinderat gewählt wurde, habe es dort mit SP, CVP und «seiner» FDP drei Parteien gegeben. Heute gebe es deren sechs, auch kleinere, und alle wollten sich profilieren. «Was natürlich dazu führt, dass die Diskussionen länger werden und die Politik symbolbeladener wird.»
Speziell in Erinnerung geblieben ist Fluri etwa eine Episode aus dem Gemeinderat. Für ein Bauprojekt habe ein einzelner Baum gefällt werden müssen. Das Ganze habe in langatmigen Debatten geendet, in Mails, Leserbriefen und medialer Berichterstattung. So etwas hätte es früher nicht gegeben, ist Fluri überzeugt. Die Akzeptanz von Entscheiden sei halt kleiner geworden. Ob er das bedauert? «Das hat keinen Wert. Aber als Politiker braucht man heute einen längeren Geduldsfaden.»
«Die FDP versteht die Städte nicht»
Geduld benötigte Fluri auch selbst immer wieder. So etwa vor rund einem Jahr, als die SVP die «links-grünen Schmarotzerstädte» zum neuen Feindbild auserkor. «Man sollte Gräben eigentlich zuschütten und nicht vertiefen», sagt der langjährige Präsident des Schweizerischen Städteverbands dazu diplomatisch. Und kann sich dann doch nicht die Bemerkung verkneifen, dass die städtischen SVP-Parteien über den Angriff ihrer Partei auf die Städte sicher nicht allzu glücklich seien.
«Heute kann man nicht mehr sagen, dass die Städte systematisch benachteiligt würden.»
Dabei, weiss Fluri, hat es in den grösseren Schweizer Städten auch seine FDP nicht einfach. Die drei vielleicht drängendsten Themen der Stadtbevölkerung – der öffentliche Verkehr, der (genossenschaftliche) Wohnbau und die Kultur – habe die Partei zu lange ignoriert. «Die FDP versteht die Städte nicht», liess sich Fluri darum letztes Jahr prominent in der NZZ zitieren. Für ihn persönlich gilt das allerdings nicht: Speziell der Kultursektor war für ihn immer auch eine Herzensangelegenheit. Fluris Meisterstück als Stadtpräsident, so attestieren es ihm denn auch verschiedene Solothurner Chronisten, sei vermutlich die Renovierung des Stadttheaters gewesen.
Städte sind heute nicht mehr benachteiligt
Danach gefragt, welche Punkte seines politischen Leistungsausweises ihm selbst am wichtigsten seien, nennt auch Fluri die städtischen Kulturbetriebe. Ebenso wie seine Arbeit am Dossier FABI (Finanzierung und Ausbau der Bahninfrastruktur), die wiederholten Verlängerungen des Fonds de Roulement zum gemeinnützigen Wohnbau und sein Engagement für den Artikel 50 der Bundesverfassung. Dieser stärkt die Rolle der Städte, Gemeinden und Berggebiete als dritte föderale Ebene im Staat. So würden Städte und Gemeinden von den Bundesämtern heute viel stärker einbezogen als früher, als der Bund beinahe ausschliesslich mit den Kantonen zusammengearbeitet habe.
«Heute kann man deshalb nicht mehr sagen, dass die Städte systematisch benachteiligt würden», sagt Fluri. Es ist ein starkes Schlusswort für den abtretenden obersten Städter der Schweiz. Für ein Schlusswort zu seiner ganzen politischen Karriere wäre es indes noch etwas zu früh. Zwar gibt Fluri viele seiner Ämter nach und nach ab – doch einige, etwa die Präsidien der Stiftung Landschaftsschutz, des Regionalverkehrs Bern-Solothurn oder der Solothurn Spitäler AG, möchte er behalten. Ganz loslassen will Fluri halt doch nicht. Oder, wie er es ausdrückt: «Wir haben heute eine Lebenserwartung von 85 Jahren. Mit 65 nur noch umherzureisen und zu jassen, wäre schade.» Für einen wie Kurt Fluri wäre es das auf jeden Fall.
Fluri geht, Stokholm kommt
Nach 26 Jahren im Vorstand des Schweizerischen Städteverbands, davon die letzten neun als Präsident, gab Kurt Fluri sein Amt am 25. August im Rahmen des Städtetags in Basel ab. Als Fluris Nachfolger wählten die Delegierten den Frauenfelder Stadtpräsidenten Anders Stokholm.