In Lichtensteig stehen überall in der Stadt Hochbeete, deren Ertrag von der Bevölkerung genutzt werden darf.

Gemüse ernten mitten in der Stadt

19.04.2022
4 | 2022

Das Projekt «Genuss für Mensch und Natur» der Gemeinde Lichtensteig wurde mit dem Binding Innovationspreis für Biodiversität 2021 ausgezeichnet. Die Stadt zeigt ihren Besuchern an vielen Orten den grünen Daumen.

Der Apothekengarten neben einem Coworkingspace an der zentralen Bushaltestelle von Lichtensteig SG lädt dazu ein, Medizinalpflanzen wie Thymian oder Borretsch zu probieren. In einem anderen Hochbeet gedeihen Himbeeren. Bei der Schule entstand eine Rabatte mit drei Birnenspalierbäumen, und in der Nähe wurden Cassissträucher gepflanzt. Rund um ein oft besuchtes Denkmal wie auch auf Erholungsflächen laden Beerensträucher zum Naschen ein. In der Altstadt trifft man immer wieder auf Hochbeete, in denen essbare Kräuter und andere Pflanzen für einen grünen Blickfang sorgen. Ganz klar: Lichtensteig zeigt sich von seiner grünen Seite.

Das Projekt «Genuss für Mensch und Natur», das vor acht Jahren seinen Lauf nahm, wurde mit dem Binding Innovationspreis für Biodiversität 2021 ausgezeichnet. Dies, weil das Projekt die Vielfalt von Pflanzen für die Bevölkerung durch die Verbindung mit Geschmack und Genuss in vorbildlicher Weise erlebbar macht. Das Projekt stehe – so die Sophie und Karl Binding Stiftung in Basel – für ein «neues Verständnis einer Gemeindeführung, die der Bevölkerung eine Mitwirkung bei der Gestaltung ihres Lebensumfelds ermöglicht».

Natur zum Geniessen

So richtig grün wurde der Daumen des Städtchens Lichtensteig 2014, als eine Gruppe von Freiwilligen aus der Bevölkerung unter dem Namen «Blühendes Lichtensteig» begann, gemeinsam die vorhandenen Grünflächen inner- und ausserhalb der Stadt zu pflegen sowie Stauden, Sträucher und Bäume zu pflanzen. Seit zwei Jahren besitzt Lichtensteig mit Sarah Brümmer gar eine offizielle «Grünstadt-Beauftragte» mit Teilzeitpensum. Ihre Aufgabe ist es, das Grünstadt-Projekt konzeptuell wie auch praktisch umzusetzen und weiterzudenken. «Als ich meine Stelle antrat, entdeckte ich für die Förderung der Natur in der Stadt viel Potenzial. Weil Lichtensteig damals über den Aspekt Genuss bereits zahlreiche Anknüpfungspunkte hatte, bot sich für mich die Verbindung von Natur und Genuss an, um die Menschen abzuholen», erzählt Sarah Brümmer.

In den letzten zwei Jahren lancierte sie zusammen mit der Bevölkerung und dem Bauamt zahlreiche Projekte. Im Rahmen einer Auftaktaktion wurden in der ganzen Stadt zwölf Hochbeete zu verschiedenen Themen wie essbaren Wildpflanzen, Gartenblumen oder Insekten platziert und bepflanzt. Die Bevölkerung wurde zu einer Hochbeet-Kräuterwanderung eingeladen. Ausserhalb der Stadt entstand ein «Nasch-Hang» mit Kultur- und Wildbeeren. Diverse Obstbäume wurden gepflanzt und Ruderalflächen geschaffen. Weiter entstand eine Saatguttausch-Pinnwand, interessierte Hauseigentümer profitierten von einer Beratung für Wildblumenwiesen, zudem fanden verschiedene Vorträge zur naturnahen Gartengestaltung statt.

In Zukunft weniger Unterhalt

Was bedeutet das Grünstadt-Projekt für den Unterhalt der geschaffenen Grünflächen in und um Lichtensteig? Regelmässig trifft man Sarah Brümmer und einen Mitarbeiter des Bauamtes beim Gärtnern in der Stadt. Die aufwendigen Mäh- und Schneidarbeiten sowie die Bewässerung der Grünflächen indes werden von den Mitarbeitern des Werkhofes ausgeführt. Sie wurden im Vorfeld geschult. Denn: «Gerade im Umgang mit Wildpflanzen braucht es entsprechende Pflanzenkenntnisse», betont die Grünstadt-Beauftragte. Manche Pflanzen sollen absamen und dürfen daher nicht geschnitten oder am Ende ihrer Saison entfernt werden.

Auch die Pflege von Ruderalflächen, Hecken und Magerwiesen will gelernt sein. «Am Anfang ist der Aufwand bei naturnahen Anlagen zwar etwas grösser, doch später braucht es hier weniger Unterhalt als bei herkömmlichen Pflanzungen», erklärt Sarah Brümmer. Grund: Ruderalflächen oder Magerwiesen benötigen nur wenig Pflege und Bewässerung. Und bei den Wildpflanzen fällt das regelmässige Anpflanzen von Wechselflor weg.

Die Förderung der Natur in der Stadt hat Potenzial.

Sarah Brümmer, Grünstadt-Beauftragte

Bevölkerung regelmässig informieren

Die vielen grünen Impulse stossen in Lichtensteig laut Sarah Brümmer auf ein durchwegs positives Echo. Als grosse Herausforderung bezeichnet die Grünstadt-Beauftragte zum einen die sinnvolle Platzierung der Pflanzen auf zum Teil kleinen Flächen. Zum andern dürfe stets auch die Ästhetik nicht vernachlässigt werden. «Viele Menschen sind sich die Optik von Naturgärten nicht gewohnt. Je nach Saison zeigen sich die Pflanzen nicht immer von ihrer schönsten Seite. Deshalb informieren wir die Bevölkerung regelmässig, auch in den sozialen Medien.»

Grosse Unterstützung wurde dem Projekt auch vonseiten der Behörden und Politik zuteil. Die Gemeinde bis hin zum Gemeinderat trägt das Engagement für die Naturvielfalt mit und verkörpert ein neues Verständnis einer Gemeindeführung, die mit Zukunftswerkstätten das vorhandene Kreativitätspotenzial aus der Bevölkerung nutzt (siehe auch Interview mit Stadtpräsident Matthias Müller).

Weitere Projekte in Planung

Das Grünstadt-Projekt ist – trotz allen Lorbeeren – nicht abgeschlossen. Derzeit laufen die Planungen für eine Streuobstwiese sowie ein Laichgewässer für Geburtshelferkröten. Die Zusammenarbeit mit der Schule soll intensiviert werden, um die Kinder noch mehr in das Erlebnis rund um Wildpflanzen einzubeziehen. Ausserdem stehen die Chancen gut, dass nächstes Jahr frei gewordene Grünflächen für einen Beteiligungsgarten mit Wildsträuchern und einer Kleingartenanlage genutzt werden können.

Erste Preisvergabe

Die Sophie und Karl Binding Stiftung engagiert sich schweizweit fördernd und mit eigenen Projekten sowie Kooperationen in den Bereichen Umwelt, Soziales und Kultur. Der Binding Innovationspreis wurde letztes Jahr zum ersten Mal vergeben, wie Jan Schudel, Bereichsleiter Umwelt und Soziales sowie Projektleiter Binding Preis für Biodiversität, erklärt. Das Projekt wurde aus 74 eingereichten Gesuchen ausgewählt. Teilnahmeberechtigt sind Unternehmen, Gemeinden, die öffentliche Hand, Nichtregierungsorganisationen, Schulen und Planungsbüros.

«Wir sehen uns als Innovationsmotor»

Mathias Müller, Stadtpräsident von Lichtensteig, will Bürgeranliegen konsequent umsetzen.

Welche Ziele hat sich die Gemeinde bezüglich Biodiversität gesetzt?

Mathias Müller: Ganz grundsätzlich sieht sich die Gemeinde Lichtensteig als Innovationsmotor. Lichtensteig ist Pionierin in verschiedenen Bereichen. Die Biodiversität ist ein Thema, das immer wichtiger wird. Auch hier wollen wir vorangehen und unseren Beitrag zur Lösung der Probleme leisten. Das Ziel ist, dass nebst der Gemeinde auch die Privaten sensibilisiert und motiviert werden, ihre Grünräume biodiverser zu gestalten.

Biodiversität wird immer wichtiger.

Mathias Müller, Stadtpräsident von Lichtensteig.

Ist damit auch ein neues Verständnis von Lichtensteig als Gemeinde verbunden?

Müller: Ja, das ist so. Wir müssen als Gemeinde mit gutem Beispiel vorangehen und gleichzeitig die Menschen mitnehmen. Für die Glaubwürdigkeit ist es wichtig, dass Bürgeranliegen aus solchen Prozessen konsequent umgesetzt werden.

Gibt es weitere Projekte, die rund um die Biodiversität auf dem Programm stehen?

Müller: Es folgen diverse konkrete Projekte, insbesondere in Zusammenhang mit der Entwicklung der öffentlichen Flächen. Weiter wird das Thema 2022 auch im Richtplan verankert, der sich derzeit in der Gesamtrevision befindet, und letztlich auch in den Bauvorschriften niedergeschrieben. Zudem soll die Grünstadtzertifizierung 2022 einen wesentlichen Schritt weitergehen. Langfristig wollen wir einen «Stadtpark» an der Thur realisieren, wo die Biodiversität ein wesentliches Element darstellen soll.

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