Gemeindeversammlungen: welche Zukunft nach Corona?
Die Corona-Pandemie hat die Durchführung von Gemeindeversammlungen erschwert, weshalb vielerorts Urnenabstimmungen zugelassen wurden. Folgt nun die Abschaffung der Gemeindeversammlung in Raten? Ein Blick in die Praxis und die Wissenschaft zeigt ein differenziertes Bild.
Der Bund hat politische Versammlungen der Legislative auf kommunaler Ebene explizit von den Veranstaltungsbeschränkungen ausgenommen (vgl. Art. 6c der «Covid-19-Verordnung besondere Lage» vom 19. Juni 2020). Gemeindeversammlungen können somit im Gegensatz zum ersten Lockdown im Frühling 2020 grundsätzlich durchgeführt werden. Selbstverständlich müssen die dafür notwendigen Schutzkonzepte eingehalten werden.
Die Gemeinde Eschlikon TG hat knapp 4500 Einwohnerinnen und Einwohner. An der Gemeindeversammlung am 7. Dezember 2020 nahmen 42 Stimmberechtigte teil. Damit wurde eine Stimmbeteiligung von gerade einmal 1,3 Prozent erreicht, corona-bedingt deutlich tiefer als üblich (4 Prozent). Bei eidgenössischen Abstimmungen an der Urne wird regelmässig eine Stimmbeteiligung von über 45 Prozent erreicht. Die geforderten Schutzmassnahmen und die Angst vor Ansteckungen haben viele Stimmberechtigte davor abgeschreckt, die Gemeindeversammlung zu besuchen. Mit solchen oder ähnlichen Szenarien sind viele andere Gemeinden auch konfrontiert.
Ersatz der Gemeindeversammlung durch Urnenabstimmung
Aus rechtlicher Sicht muss gewährleistet werden, dass die Gemeindeversammlung so abgehalten werden kann, dass alle Stimmbürgerinnen und Stimmbürger ihre Rechte ungehindert wahrnehmen können und eine unverfälschte Stimmabgabe möglich bleibt (vgl. Art. 34 Abs. 2 BV). Das bedeutet unter anderem einen Anspruch auf Zugang zu Gemeindeversammlungen*. Niemand darf abgewiesen werden, weil die Raumverhältnisse dies nicht zulassen. Deshalb haben verschiedene Kantone die Möglichkeit geschaffen, die Gemeindeversammlung befristet durch eine Urnenabstimmung zu ersetzen.
Die Schweizer Gemeinden mit Gemeindeversammlung haben unterschiedlich auf die kantonalen Verfügungen reagiert. Diejenigen Gemeinden, welche wie Eschlikon (TG) an der Gemeindeversammlung festhielten, waren mit (noch) tieferer Stimmbeteiligung konfrontiert. In Aesch (BL) wiederum wurde im Juni 2020 eine Freiluft-Gemeindeversammlung mit 300 Teilnehmenden durchgeführt. In Jegensdorf (BE) wurde eine Beschwerde gegen die Durchführung der Gemeindeversammlung vom 20. November 2020 eingereicht. Diese wurde vom zuständigen Statthalter aber genauso wie eine andere Beschwerde in Kehrsatz (BE) abgelehnt. Die Begründung: Eine Gemeindeversammlung sei auch in Corona-Zeiten möglich, auch wenn die Stimmbeteiligung tiefer als üblich sei. Wichtig sei, dass keine Hinweise bestehen würden, dass das Schutzkonzept nicht eingehalten worden sei.
Viele andere Gemeinden haben von der Ausnahmeregelung Gebrauch gemacht und haben Urnenabstimmungen durchgeführt. Dazu gehören Gemeinden aus ganz verschiedenen Kantonen wie z.B. Berikon (AG), Konolfingen (BE), Silvaplana (GR), Entlebuch (LU), Ennetbürgen (NW), Riedholz (SO). Die meisten erreichten dabei eine höhere Stimmbeteiligung als üblich, wenn auch deutlich tiefer als an eidgenössischen Urnengängen.
Wissenschaftliche Erkenntnisse zur Gemeindeversammlung
80 Prozent der Schweizer Gemeinden verfügen über eine Gemeindeversammlung. Sie stellt das zentrale Element der direkten Demokratie auf kommunaler Ebene dar. Der Anteil der Gemeindeversammlungen hat in der Schweiz in den letzten 25 Jahren nur unwesentlich abgenommen. Es gibt keinen wissenschaftlichen Nachweis, dass Gemeinden mit Gemeindeversammlung weniger leistungsfähig sein sollten als Parlamentsgemeinden. Die Wissenschaft hat – soweit ersichtlich – auch keine Antwort auf die Frage, ob eine Vorlage an der Gemeindeversammlung oder an der Urne mehr Unterstützung erhält. Der grosse Unterschied zwischen Gemeindeversammlung und Urnengemeinde besteht in der Stimmbeteiligung. Diese ist in Versammlungsgemeinden schweizweit tief und ist in der letzten Zeit noch weiter zurückgegangen. Sie variiert zwischen knapp über 20 Prozent in den Kleinstgemeinden (bis 250 Einwohner) und zwei bis drei Prozent in den grossen Gemeinden (über 10000 Einwohner). Daneben zeigt sich, dass die jüngeren Einwohnerinnen und Einwohner sowie die Neuzuzüger fast überall untervertreten sind**.
Verschiedene kantonale Gemeindegesetze verlangen im Falle einer Urnenabstimmung, dass eine rechtlich verbindliche Vorberatung stattfindet, an welcher die behördliche Vorlage angepasst werden kann (z.B. Art. 20 Abs. 2 Gemeindegesetz GR; § 13 Gemeindeorganisationsgesetz SZ). Eine Informations- bzw. Orientierungsversammlung genügt nicht. Dies ist allerdings nicht in allen Kantonen notwendig. Im Kanton Zürich muss nicht zwingend eine Vorberatung stattfinden und eine Vorlage der Gemeindeexekutive kann direkt an die Urne gebracht werden (vgl. § 16 Abs. 1 Gemeindegesetz ZH). Damit können im legislativen Prozess keine Anpassungen vorgenommen werden. Die Literatur kritisiert dieses Vorgehen und spricht auch von Demokratiedefiziten.
Im Falle der Urnenabstimmung erhöht sich die Anforderung an die Ausgestaltung der kommunalen Abstimmungsbotschaft. Dies verlangt das Gebot einer sachlichen und ausgewogenen Information der Stimmberechtigten. Nur so kann die wegfallende Diskussion zumindest teilweise aufgefangen werden. Tiefere Anforderungen gelten für die Orientierungsversammlung, wo keine politisch verbindlichen Entscheide gefällt werden. Hier ist es auch möglich, digitale Gemeindeversammlungen durchzuführen.
Qualitative Aufwertung der Gemeindeversammlung
Man sollte nun nicht vorschnell die Abschaffung der Gemeindeversammlung fordern. Den Vorteilen der höheren Stimmbeteiligung und der Verhinderung von einseitiger Mobilisierung stehen die Nachteile des Verlusts der Möglichkeit zur Anregung, zur Kritik, zum direkten Gespräch, zur Information und zur Einflussnahme auf den Inhalt der Versammlungsbeschlüsse gegenüber. Die mancherorts überraschenden Abstimmungsresultate sind wahrscheinlich weniger auf die Umstellung per se als vielmehr auf das Aufbrechen eingespielter Abläufe und Strukturen oder den Inhalt der Vorlage zurückzuführen.
Es ist davon auszugehen, dass der Anteil der Gemeinden mit Gemeindeversammlung auch nach überstandener Pandemie nicht wesentlich abnehmen wird. Eine Abschaffung ist unpopulär, da dadurch die Mitwirkungsmöglichkeiten der Stimmbevölkerung eingeschränkt werden. Die Bedeutung der Urnenabstimmung für kommunale Vorlagen dürfte trotzdem steigen. Schon heute muss in vielen Versammlungsgemeinden über grössere Ausgaben und auch Änderungen der Gemeindeordnung an der Urne entschieden werden.
Orientierungsversammlungen können in Zukunft digital oder hybrid durchgeführt werden, wie dies beispielsweise in Ilanz/Glion (GR) am 20. Januar 2021 für eine Informationsveranstaltung über ein Infrastrukturprojekt bereits umgesetzt wurde. Gemeindepräsidentin Carmelia Maissen spricht von einem «Experiment». «Angesichts der Rahmenbedingungen war es die einzige Lösung, um die Bevölkerung zeitgerecht und umfassend über das Bahnhofsprojekt und die Vorlagen der Ortsplanung zu informieren. Aber ich freue mich darauf, dies wieder vor Publikum tun zu können. Denn es fehlt der direkte Blickkontakt mit den Menschen und auch der Austausch untereinander vor oder nach der Veranstaltung, was mindestens so wichtig ist wie die Präsentation selber. Auch entsteht kaum eine Publikumsdiskussionen, im Chat waren keine Fragen eingegangen. Das Positive ist, dass die interessierten Personen sich die Präsentation anschauen konnten, wann sie Lust und Zeit hatten.»
Für die Gemeindeversammlungen sollten zudem qualitative Verbesserungen überlegt werden. Dazu gehört die Möglichkeit des nachträglichen Referendums an der Urne, wie es schon heute fast die Hälfte der Versammlungsgemeinden vorsieht. Dadurch kann die Legitimität der Entscheide nachträglich verbessert werden. Wahlgeschäfte sollten zudem grundsätzlich geheim durchgeführt werden, wozu sich die Urnenabstimmung besser eignet.
* Fetz Ursin, Bündner Gemeinderecht, Zürich/Basel/Genf 2020, S. 116
** vgl. weiterführend Ladner Andreas, Gemeindeversammlung und Gemeindeparlament, Cahier de l’IDHEAP 292/2016, Lausanne 2016
Die Erfahrung von Ilanz/Glion
Die Gemeindepräsidentin von Ilanz/Glion, Carmelia Maissen, spricht im Zusammenhang mit der digitalen Informationsveranstaltung vom 20. Januar von einem «Experiment». «Angesichts der Rahmenbedingungen war es die einzige Lösung, um die Bevölkerung zeitgerecht und umfassend über das Bahnhofsprojekt und die Vorlagen der Ortsplanung zu informieren», sagt sie auf Anfrage der «Schweizer Gemeinde». Maissen, die auch Vorstandsmitglied des Schweizerischen Gemeindeverbands ist, freut sich aber darauf, dies wieder vor Publikum zu tun. «Denn es fehlt der direkte Blickkontakt mit den Menschen und auch der Austausch untereinander vor oder nach der Veranstaltung, was mindestens so wichtig ist wie die Präsentation selber. Auch entstehen kaum Publikumsdiskussionen, im Chat waren keine Fragen eingegangen. Das Positive ist, dass sich die interessierten Personen die Präsentation anschauen konnten, wann sie Lust und Zeit hatten.»