Lassen sich mit Fusionen Kosten senken? 

«Gemeindefusionen führen zu Demokratieverlust»

Der ehemalige langjährige Gemeinderat und Historiker René Roca sieht keine Vorteile in Gemeindefusionen, wie er in seinem Gastbeitrag schreibt. Der Verlust der «weichen Faktoren» sei bei Fusionen nicht zu unterschätzen.

Ich bin war 16 Jahre parteiloser Gemeinderat in Oberrohrdorf-Staretschwil und sechs Jahre Vizeammann. Meine politische Karriere startete ich unfreiwillig, als ich kurz nach einem Wohnortswechsel in meiner neuen Gemeinde an einer Infoveranstaltung teilnahm. Thema: die mögliche Fusion mit Niederrohrdorf. Ich kam schnell mit anderen kritischen Gemeindebürgern in Kontakt, und wir gründeten den Verein «Pro Oberrohrdorf-Staretschwil». Wir hatten gute Argumente, dass unsere Gemeinde eigenständig bleiben sollte. Wir wehrten uns schliesslich erfolgreich gegen eine teure Studie, welche die Auswirkungen der Fusion mit der Nachbargemeinde untersuchen wollte. Wir hatten damit an der Gemeindeversammlung und an der Urne Erfolg. Bei der anschliessenden Wahl in den Gemeinderat liess ich mich vom Verein aufstellen und wurde gewählt. Die beiden Gemeinden entwickeln sich bis heute prächtig.

Später engagierte ich mich weiter in der Fusionsfrage, und zwar als Gemeinderat im Komitee «Für Gemeindeautonomie und einen solidarischen Aargau» gegen die «Gemeindereform Aargau», die unter anderem die Möglichkeit von Zwangsfusionen beinhaltet hätte. Auch diese Abstimmungen konnten wir klar gewinnen. Trotzdem gab es neue Vorstösse des Kantons, mit denen er mit Beratung und viel Geld Gemeindefusionen unterstützt, obwohl wissenschaftliche Erkenntnisse zeigen, dass solche Fusionen nichts bringen.

Professionalisierung versus menschliche Auswirkungen

Bei der Begründung von Gemeindefusionen werden meistens die folgenden Punkte aufgezählt: Effizientere Strukturen, Professionalisierung der Dienstleistungen und Einsparen von Kosten. Es sind also primär administrative und finanzielle Überlegungen, die zwei oder mehr Gemeinden dazu bringen sollen, sich für eine gemeinsame Zukunft zu entscheiden. Die politisch-demokratischen sowie menschlich-gemeinschaftlichen Auswirkungen allerdings hat bisher kaum jemand hinterfragt. Zu Unrecht, denn sie spielen sehr wohl eine Rolle, auch wenn sie bei Fusionsdiskussionen immer wieder als «weiche Faktoren» verunglimpft werden. Zuerst nun aber zu den wissenschaftlichen Studien.

Spareffekt ist ganz klein

In der Theorie wie auch in der Praxis werden Gemeindefusionen oft mit Spareffekten motiviert. So wird erwartet, dass sich durch verschiedene Effekte grössere Synergien nutzen lassen, welche die Kosten senken würden. Untersuchungen zu den Effizienzwirkungen von Gemeindefusionen beschränken sich bis anhin auf Fallstudien zu einzelnen Gemeindefusionen sowie Befragungen von Gemeindevertretern.

Professor Christoph A. Schaltegger von der Universität Luzern untersuchte in einem breit angelegten Forschungsprojekt 142 Gemeindefusionen aus zehn Kantonen zwischen 2001 und 2014. Schaltegger führt zu den Resultaten seiner Studie Folgendes aus: «Die Analyse zeigt, dass über alle betrachteten Gemeindefusionen hinweg keine systematischen Spareffekte erkennbar sind. Folglich kann nicht automatisch von Kosteneinsparungen durch Gemeindefusionen ausgegangen werden.» Im Bereich der Verwaltungsaufgaben sei ein kleiner Spareffekt erkennbar, aber bei den Gesamtausgaben würden jedoch keine systematischen Spareffekte deutlich. Schaltegger weiter: «Es ist daher davon auszugehen, dass die Einsparungen im Verwaltungsbereich durch Ausgabensteigerungen in anderen Budgetpositionen wieder kompensiert werden.»

Auch bei den Indikatoren «Bevölkerungsentwicklung» oder «Immobilienpreise» liessen sich keine systematischen Unterschiede zwischen fusionierten und nicht fusionierten Gemeinden feststellen. Das Resultat ist also absolut ernüchternd, ein «Nullergebnis», wie Schaltegger festhält. Die Aussage, dass eine Gemeindefusion Spareffekte erzeugt, muss mittlerweile als «Fusionsmythos» bezeichnet werden. Als prominentes Beispiel wurde in den Medien dem Glarnerland während des Fusionsprozesses ein «Fusionskater» attestiert, da sich anstelle von Einsparungen rote Zahlen eingestellt hatten.

Fusionsschock für die lokale Demokratie

Gemeindefusionen haben vor allem auch schwerwiegende Auswirkungen auf die Demokratie. Laut einer Studie des Zentrums für Demokratie (ZDA) lösen Fusionen einen eigentlichen «Schock» für die lokale Demokratie aus. Messbar, so die Studie, zeige sich dies in einer tieferen Stimmbeteiligung. Die Menschen interessieren sich also weniger für die Politik und klinken sich aus den milizbasierten gesellschaftlichen Strukturen aus. Solche Aspekte werden bei Fusionen von Gemeinden bisher klar vernachlässigt.

Der Schock, so die Studie des ZDA, sei für kleine Gemeinden, die sich grösseren anschliessen würden, stärker. In den Gemeinden funktionierten lokale politische Netzwerke. Diese würden durch eine Fusion zerschlagen. Die erste Konsequenz sei, wie schon erwähnt, eine tiefere Stimm- und Wahlbeteiligung bei kommunalen Urnengängen. Die zweite sei, dass Vertreter lokaler Bewegungen oder Parteilose geringere Wahlchancen hätten und sich aus der politischen Szene verabschieden würden. Die Konsequenzen einer Fusion auf die lokale Demokratie sollten sich die Gemeindebürger bewusst machen und sich klar vor Augen führen, was auf dem Spiel steht.

Nicht alles ist messbar

Wir verfallen immer mehr dem Wahn, alles messen zu wollen. Obwohl es, wie gezeigt, zu den Gemeindefusionen mittlerweile empirische Studien gibt, die klar die negativen Effekte einer Fusion aufzeigen, existieren daneben noch weitere Faktoren, die nicht einfach messbar sind. Die Menschen möchten sich grundsätzlich am Gemeinwesen beteiligen. Das zeigt sich sehr schön bei unserem Milizsystem. Eine Fusion untergräbt diesen Willen, das Gemeinwohl aktiv mitzutragen. So gehen die besten Kräfte eines Gemeinwesens verloren. Diese menschlichen Kräfte braucht es aber in Zukunft, um die kommenden schwierigen Fragen zu beantworten und zu meistern. Dies führt uns in diesen Tagen die Coronakrise besonders deutlich vor Augen. Die Zukunft ist nur mit Menschen zu bewältigen, die freiwillig mitdenken und mitgestalten.

Aus all dem ergeben sich folgende Thesen:

1. Als Konklusion zu seiner Studie schlussfolgert Schaltegger: «Wenn im Durchschnitt aller Fusionen kein Effekt erzielt wird, kann die Gemeindefusion grundsätzlich nicht als Rezept für Kostenersparnisse oder Qualitätssteigerungen dienen.» Dass gewisse politische Kreise wider besseres Wissen am «Fusionszirkus» festhalten, kann nur als ideologisch bezeichnet werden. Diese Kreise sind mehr an Macht und Zentralismus interessiert als an blühenden Gemeinwesen.

2. Die wissenschaftlichen Resultate zeigen, dass die pragmatische Kooperation und problemorientierte Zusammenarbeit unter den Gemeinden auch ohne Fusion wichtige Synergiepotenziale erschliessen kann.

3. Gemeindefusionen sollten nicht ohne wissenschaftliche Evidenz aktiv durch teure Beratung und finanzielle Beiträge unterstützt werden. Ein aktuelles Beispiel: Dass der Kanton Aargau keine grössere Stadt besitzt, finde ich von Vorteil. Es sind die kleinen Strukturen, die den Menschen gerade heute Heimat und Identität vermitteln, denn es gilt nach wie vor: «Small is beautiful.» Was verfolgt denn eine «Modellstadt Baden» oder der «Grossraum Aarau» für Ziele? Der Kanton Aargau, die verantwortlichen Gemeindebehörden und die Planer fördern jedenfalls mit solch unsinnigen Projekten einzig den weiteren demokratischen Abbau des genossenschaftlich verfassten Gemeindewesens, des Grundpfeilers der direktdemokratischen Schweiz.

4. Gemeindefusionen sind nicht der «Königsweg», um die Herausforderungen der Zukunft zu meistern. Im Gegenteil, es gilt, das Milizsystem und die Gemeindeautonomie zu stärken, damit die Qualität der Demokratie nicht noch mehr leidet und die Menschen sich aus dem öffentlich-gemeinwohlorientierten Leben verabschieden.

 

René Roca
Forschungsinstitut direkte Demokratie
Dr. phil., Historiker und ehemaliger Gemeinderat und Vizeammann in Oberrohrdorf-Staretschwil