Das Vorschulturnen soll idealerweise allen Familien offenstehen.

Für mehr Vielfalt im Vorschulturnen

19.04.2022
4 | 2022

Das Pionierprojekt «Miteinander Turnen» will die Gleichstellung und Vielfalt in Vorschulturnangeboten fördern. Es wird in 22 Gemeinden in sieben Kantonen umgesetzt. Projektleiter Elias Vogel erzählt von seinen Erfahrungen.

Das Vorschulturnen mit den Angeboten MuKi (Mutter-Kind-Turnen) VaKi (Vater-Kind-Turnen), ElKi (Eltern-Kind-Turnen), GroKi (Grosseltern-Kind-Turnen) ist seit über 50 Jahren in allen Landesteilen ein bekanntes Angebot von Turnvereinen für Familien mit Kindern im Alter von drei bis fünf Jahren. Die angeleiteten Lektionen finden wöchentlich statt und sind sehr beliebt.

Doch nicht alle Familien finden in diese Angebote hinein. Die Gründe sind sehr vielseitig; so können beispielsweise finanzielle, sprachliche, kulturelle sowie weitere Hürden bestehen. Familien mit Kindern mit einer Beeinträchtigung machen oft auch die Erfahrung, dass sie sich nicht willkommen fühlen oder es nicht sind. Mit dem Pilotprojekt «MIMUKI» ab 2012 und mit der Lancierung des Projekts «Miteinander Turnen» im Jahr 2016 hat die Sport Union, zweitgrösster Breitensportverband der Schweiz, das Thema erkannt und leistet seither einen wichtigen Beitrag für die Gleichstellung und Förderung von Vielfalt im Vorschulturnen. Nach einer sechsjährigen Umsetzungsphase wird das Projekt per Ende 2022 in den Regelbetrieb überführt.

Vom Pilotprojekt zur Umsetzung

Von 2012 bis 2015 wurde in der Gemeinde Hochdorf LU der Pilot des Projekts durchgeführt. Die Erfahrungen und Erkenntnisse waren sehr positiv. Durch die lokale Vernetzung mit der Gemeinde und mit Fachstellen sowie durch die Koordination fanden Familien aus anderen Kulturen den Weg in das Vorschulturnangebot und von da in die weiteren Angebote der Gemeinde. Es durften wunderschöne Geschichten geschrieben werden. Diese gaben auch den Ausschlag, dass man entschied, das Projekt grösser zu denken und umzusetzen.

2016 begann die Umsetzungsphase mit einer Anschubfinanzierung durch das Bundesamt für Sport (BASPO) mit dem ersten Projektstandort in Wolhusen (LU). In den Folgejahren wurde viel in die konzeptionelle Weiterentwicklung, die Weiterbildung sowie in die sternförmige Ausbreitung des Projekts auf andere Regionen der Schweiz investiert. Aktuell wird das Projekt in 22 Projektstandorten verteilt auf die Kantone Luzern, Obwalden, Nidwalden, Zürich, St. Gallen, Tessin und Graubünden in drei Sprachregionen umgesetzt. In den verschiedenen Standorten finden wöchentlich 45 Lektionen statt, die rund 4700 Kinder bzw. 3500 Familien erreichen.

Die Rolle der Gemeinde

Auf lokaler Ebene ist das Vorschulturnen in vielen Gemeinden ein sehr beliebtes und gut besuchtes Angebot der frühen Bewegungsförderung. Unsere Erfahrungen zeigen, dass das Vorschulturnen aber nicht überall den gleichen Stellenwert bzw. die Wertschätzung auf kommunaler Ebene bekommt. Eine jährlich stattfindende Sitzung vonseiten der Gemeinde mit den Vorschulturnleiter/innen kann helfen. Es können so Fragen der Hallenbelegung, Findung von Leitungspersonen, Fragestellungen bezüglich der Akquise neuer Familien, der Kommunikation sowie der finanziellen Unterstützung geklärt werden. Das Vorschulturnen sollte im Interesse der Gemeinde sein, weil es ein idealer Einstieg von Kindern im Alter von drei bis fünf im Vorschulalter ist.

Vielfalt ist eine Chance für uns alle

Die Diversität unserer Gesellschaft spiegelt sich auch in den Vorschulturngruppen. Diese Vielfalt ist eine Chance für uns alle, und umso mehr gilt es, sie schon in der Frühen Kindheit zu fördern. Die Aussage «Bei uns sind alle willkommen» allein reicht nicht aus.

Wie die Erreichbarkeit und der Zugang gelingt, zeigt das Projekt «Miteinander Turnen» sinnbildlich. Es braucht eine lokale Vernetzung, um die Erwartungen und Rollen zu klären und die Kommunikation zu koordinieren. Der Einsatz von Schlüsselpersonen ist zielführend, denn so können Familien direkt eingeladen und in die Vorschulturnangebote gebracht werden. Eine Willkommenskultur basiert auf einer gemeinsamen Werthaltung, die von allen gelebt und vertreten wird. Die Aus- und Weiterbildung von den Vorschulturnleiter/innen ist dabei sehr zentral. Im Rahmen der Weiterbildung des Projekts MiTu erlernen die Vorschulturnleiter/innen den Umgang mit Diversität und erfahren, wer sie unterstützen kann.

 

«Wir empfehlen Gemeinden, einen Austausch zu organisieren»

Was braucht es auf kommunaler Ebene, um das Vorschulturnen zu stärken?

Elias Vogel: Wir empfehlen Gemeinden, mindestens einmal jährlich einen Austausch mit allen Angeboten im Bereich der Frühen Kindheit zu organisieren. Dies mit dem Ziel, dass man sich gegenseitig kennt, die Kommunikation gemeinsam gestaltet und Synergien nutzt. Wir sehen es in der Praxis zu oft, dass das Vorschulturnen bei solchen Vernetzungsanlässen nicht auf der Einladungsliste steht.

Ein Dauerthema ist immer wieder die Verfügbarkeit von Hallen für freiwillige Bewegungsangebote und insbesondere auch das Vorschulturnen. Welche Best-Practice-Beispiele haben Sie diesbezüglich?

In vielen Gemeinden sind die Zeitfenster für das Vorschulturnen seit Jahren identisch. Gleichzeitig wächst die Zahl der Bevölkerung und speziell der Familien. Dies führt zu einem Ungleichgewicht, bzw. viele Familien können nicht beim Vorschulturnen mitmachen, obwohl sie möchten. Hier ist es an der Zeit, neu zu denken. Neue Belegungspläne zu erstellen, das Vorschulturnen auch mal auf Aussenplätzen wie Pumptrack, Parkanlagen, Waldspielplätzen durchzuführen. Die Zeitfenster sind mit den modernen Arbeitsformen auch nicht immer vereinbar bzw. führen zu Benachteiligungen von Eltern, die keine flexiblen Arbeitszeiten haben oder nicht das klassische Rollenmodell leben.

Wie wird das Projekt «Miteinander Turnen» nach Abschluss der Umsetzungsphase weitergeführt?

Miteinander ist der Weg für unsere Gesellschaft. Damit man diesen Weg gemeinsam gehen kann, braucht es einen Wertedialog, um die gemeinsame Haltung zu definieren. Dies ist ein Prozess, der immer wieder neu überprüft werden muss. Wir werden viele Grundlagen und Hilfsmittel für das Vorschulturnen online verfügbar haben und werden durch die Weiterbildung auch weiterhin unsere Erfahrungen sowie Wissen aus der Forschung an die Vorschulturnleiterinnen und -leiter praxisnah vermitteln.

Wie kann die Erreichbarkeit der Zielgruppe von Familien mit speziellen Bedürfnissen gefördert werden?

Die Willkommenskultur bedingt einer Haltung und ist ein Prozess, der Zeit braucht. «Bei uns sind alle willkommen» reicht dabei nicht aus. Unsere Erfahrungen zeigen, dass ein Dialog nötig ist. Dabei braucht es auch mutige neue Wege wie zum Beispiel Dolmetscherdienst für die erste Lektion, damit wichtige Grundfragen geklärt sind. Oder Kommunikation in Einfacher Sprache, damit Familien sich informieren können und sich willkommen fühlen. Gut ausgebildete Vorschulturnleiterinnen und -leiter, die in diesen Feldern Kompetenzen aufweisen und Weiterbildungen besuchen, spielen eine wichtige Rolle.

Elias Vogel
Projektleiter Miteinander Turnen 2016
Soziokultureller Animator FH
J+S-Kursexperte I-Modul Kulturelle Vielfalt im Sport vom Bundesamt für Sport (BASPO)

Informationen:

Im Juni 2021 hat das Projekt sämtliche Erfahrungen und Erkenntnisse in einem Best-Practice-Leitfaden auf Deutsch, Französisch und Italienisch publiziert und dabei auch die Rolle und möglichen Aufgaben der Gemeinde festgehalten. Der Leitfaden kann auf der Website www.mitu-schweiz.ch heruntergeladen oder kostenlos bestellt werden.