Netzwerke, Gemeinden, Parteien: Sie alle spielen eine Rolle bei der Förderung von Frauen auf Gemeindeebene.

«Frauen engagieren sich nicht weniger, aber anders»

17.10.2022
10 | 2022

In Gemeindebehörden sind Frauen untervertreten. Weshalb ist das so? Und was können Gemeinden tun, um den Frauenanteil zu erhöhen? Antworten von Ruth Nieffer, die an der Fachhochschule Graubünden zu diesen Fragen forscht.

Ruth Nieffer, das Projekt «Promo Femina» der Fachhochschule Graubünden hat herausgefunden, dass der Frauenanteil in Gemeindebehörden rund 30 Prozent beträgt. Frauen sind also klar untervertreten. Warum ist das so?

Ruth Nieffer: Die Gründe dafür sind so vielfältig wie die individuellen Lebensentwürfe, die es heute gibt. Eine klare Ursache ist schwer auszumachen. Frauen stecken tendenziell beruflich eher zurück und sind im Haushalt und in der Kinderbetreuung immer noch stärker eingebunden. Wenn die Kinder dann grösser werden, stellt sich oft die Frage: Wieder voll in den Beruf einsteigen oder ein Milizamt übernehmen? Viele Frauen entscheiden sich für den Beruf. Manche ganz einfach aus finanziellen Gründen. Andere, weil sie vielleicht nicht so gerne in der Öffentlichkeit stehen. Das hängt auch mit unserer Sozialisation im Kindesalter zusammen: Mädchen sollen brav und nett sein, Buben dürfen auch mal frech sein und sind Anführer.

Was sind weitere Gründe, die Frauen daran hindern, sich in Gemeindebehörden zu engagieren?

Manchen Frauen behagt es nicht, wenn sie fast überfallartig für ein Amt angefragt werden. Sie möchten sich Zeit nehmen für diese Entscheidung und sicher sein, dass sie den Rückhalt ihrer Familie haben. Hinzu kommt, dass viele Menschen denken, dass man einer Partei angehören muss, um in die Gemeindebehörden gewählt zu werden. Das kann abschreckend wirken. Studien zeigen allerdings, dass die Bedeutung der Parteien auf Gemeindeebene abgenommen hat. Entscheidend für eine Wahl ist vielmehr das Netzwerk innerhalb der Gemeinde.

Wenn sich Frauen engagieren, wie tun sie das?

Viele Frauen engagieren sich in Schulbehörden, dort beträgt der Anteil um 50 Prozent oder noch mehr. Wir beobachten, dass das klassische Rollenbild auch in der Gemeindepolitik spielt. Frauen übernehmen besonders oft die Ressorts Bildung und Soziales, und seltener Finanzen, Bau und Infrastruktur. Die Frage ist, ob sie das von sich aus tun, weil ihnen diese Themen näher sind, oder ob sie in diese Ressorts gedrängt werden. Das lässt sich nur schwer klären. Studien deuten übrigens darauf hin, dass Frauen sich nicht weniger in der Politik engagieren als Männer, sondern anders.

Wie denn?

Frauen setzen sich zum Beispiel für vegetarische Ernährung, gegen Foodwaste oder für soziale Anliegen ein – aber eben nicht in den traditionellen Formaten, sondern in unverbindlicheren Netzwerken.

Ist bei den Gemeinden der tiefere Frauenanteil in den Behörden überhaupt ein Thema?

Das ist eine gute Frage. Sie zu beantworten ist schwierig, weil wir sie nicht explizit untersucht haben. Grundsätzlich müssten die Gemeinden daran interessiert sein, dass die gesamte Bevölkerung in den Behörden repräsentiert ist. Tatsächlich kommt es stark auf die aktuelle Besetzung des Gemeinderats an, ob ein Problembewusstsein vorhanden ist. Das kann sich auch plötzlich ändern.

Wenn das Problembewusstsein vorhanden ist, welche Massnahmen können Gemeinden ergreifen, um den Frauenanteil zu erhöhen?

Die Aufgaben und den Zeitaufwand für ein Milizamt transparent zu machen, hilft sehr viel. Denn viele Frauen fragen sich, ob sie das überhaupt können, so ein Amt übernehmen. Wenn sie wissen, was auf sie zukommt, sind sie eher dazu bereit. Auch ein Unterstützungsangebot für neue Gemeinderätinnen und Gemeinderäte innerhalb der Behörde kann helfen. Wichtig ist: Nicht nur die Neuen müssen sich den Spielregeln innerhalb der Behörde anpassen, sondern die Spielregeln müssen auch verhandelbar sein.

«Wenn die Frauen wissen, was auf sie zukommt, sind sie eher bereit, ein Amt zu übernehmen.»

Ruth Nieffer, Dozentin FHGR

Sie plädieren für partizipative Projekte, um Frauen die Politik näherzubringen. Können Sie das ausführen?

Solche Projekte zeigen den Menschen, dass sie etwas bewegen können in ihrer Gemeinde. Idealerweise sind es kleinere Projekte mit einem klar vorgegebenen Rahmen, die bestimmte Gesellschaftsgruppen ansprechen – zum Beispiel das Aufstellen und Bepflanzen von Hochbeeten auf dem Dorfplatz. Das schweisst nicht nur die Bevölkerung der Gemeinde zusammen, sondern schafft auch positive Erlebnisse: Wir können gemeinsam etwas ändern, wenn wir das wollen. Bei manchen weckt das die Lust, mehr zu tun.

Gibt es Unterschiede beim Frauenanteil bei grösseren und kleineren Gemeinden?

Statistisch gesehen ist kein eindeutiger Zusammenhang erkennbar, respektive ist er je nach Gemeindeamt unterschiedlich. In kleineren Gemeinden kommt es oft kaum zu einem Wahlkampf, weil nur gerade so viele Personen kandidieren, wie es Ämter gibt. Manchen Frauen könnte das behagen, weil sie sich keinem Konkurrenzkampf stellen müssen. In grösseren Gemeinden gehört es in der Regel zum Selbstverständnis von Politik und Parteien, dass sich Frauen engagieren, und die Bedingungen im Amt sind fortschrittlich. Auch das kommt Frauen entgegen.

Und wie sieht es zwischen den verschiedenen Staatsebenen aus?

Zahlen des Bundesamts für Statistik zeigen, dass sich in den letzten Jahren der Frauenanteil in der Politik auf Bundesebene ungefähr bei 40 Prozent eingependelt hat, auf Kantons- und Gemeindeebene bei rund 30 Prozent. Für die nationale und die kantonale Politik wäre es wünschenswert, wenn mehr Frauen in den Gemeinden aktiv wären. Denn viele steigen so ein und bewerben sich später für ein Amt im Kantonsparlament oder sogar im National- und Ständerat.

Zur Person

Ruth Nieffer forscht an der Fachhochschule Graubünden am Schweizerischen Institut für Entrepreneurship und ist am Forschungsprojekt «Promo Femina» beteiligt. Sie hat an der Universität Konstanz Soziologie, Geschichte sowie Kunst- und Medienwissenschaften studiert. Danach absolvierte sie eine Weiterbildung zur Erwachsenenbildnerin SVEB mit Verhaltenstraining an der FH Nordwestschweiz. Sie hat sich mehrfach mit Genderfragen beschäftigt, engagierte sich in der Frauenzentrale Graubünden und präsidiert die Sektion Graubünden des Schweizerischen Verbands der Akademikerinnen.

Promo Femina – Helvetia ruft in den Gemeinden

Von Mentoring über überparteiliche Unterstützung bis hin zu neuen Modellen in der Gemeindeführung – das Projekt «Promo Femina» zeigt mit über 120 Massnahmen, wie Frauen leichter Zugang zu politischen Ämtern finden. Das neue Online-Tool und die ergänzende Studie unterstützen Gemeinden, Lokalparteien und Netzwerke und möchten einen Beitrag zur nachhaltigen Steigerung von politisch engagierten Frauen auf Gemeindeebene leisten. Das Projekt der Fachhochschule Graubünden wurde in Zusammenarbeit mit den Kantonen Appenzell Ausserrhoden, Graubünden, St. Gallen, Wallis und Zürich durchgeführt.

Die Forschenden der FH Graubünden haben in zahlreichen Workshops mit Gemeindepolitikerinnen, politisch interessierten Frauen und Expertinnen die Gründe für die spärliche Vertretung von Frauen in den Gemeindebehörden diskutiert. Mit gut 100 Teilnehmenden sind die Ergebnisse breit abgestützt. Entstanden ist eine Online-Plattform unter https://promofemina.fhgr.ch, wo zum einen über 120 Massnahmen mit Beispielen aus der Praxis illustriert und beschrieben sind. Diese richten sich an Gemeinden, Lokalparteien und (Frauen-)Netzwerke. Die Massnahmen sollen u.a. Wissenslücken zur Gemeindepolitik schliessen (z.B. politisch aktive Frauen als «Botschafterinnen» einsetzen oder Aufgabenprofile für Gemeindebehörden erstellen), unschlüssigen Frauen die Angst vor einer Kandidatur nehmen (z.B. Bootcamp für Gemeindepolitikerinnen, Mentoring durch erfahrene Gemeindepolitikerinnen oder -politiker, überparteiliche Unterstützung sicherstellen) oder die zeitliche Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Gemeindeamt verbessern (z.B. Präsenzzeiten verringern, flexiblere Arbeitsgruppen einsetzen). Zum anderen sind auf der Projekt-Webseite Tipps und Tricks, Informationen zur Gemeindepolitik und Videos für interessierte Frauen zu finden. Diese sollen den Eintritt in die Gemeindepolitik erleichtern und niederschwellig ermöglichen. Denn auf Gemeindeebene besteht Nachholbedarf. Dies untermauern die neuesten Zahlen der Studie für verschiedene Gemeindeämter. Der Anteil an Frauen in den Gemeindebehörden per Ende 2021 variiert – je nach Kanton, politischem Amt und kommunalen Strukturen sogar deutlich – und beträgt über alles betrachtet rund 33 Prozent.