Faszinierende Vielfalt der Schweizer Gemeindeparlamente
Die Gemeindeparlamente der Schweiz widerspiegeln die politische Kultur in den verschiedenen Landesteilen. Während sie in der Romandie und im Tessin auch in kleinen Gemeinden gang und gäbe und zum Teil sogar vorgeschrieben sind, setzt die Deutschschweiz mehrheitlich auf die Gemeindeversammlung. Im Interview mit Ständerat Andrea Caroni, Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Parlamentsfragen, macht die «Schweizer Gemeinde» eine Bestandesaufnahme der aktuellen Situation der Gemeindeparlamente.
Ständerat Andrea Caroni, Sie waren von 2005 bis 2008 Gemeinderat von Grub (AR), einer Gemeinde ohne Parlament. Hätten Sie sich damals ein Parlament gewünscht?
In unserer kleinen Gemeinde mit knapp 1000 Einwohnerinnen und Einwohnern wäre das meines Erachtens übertrieben gewesen. Die Stimmberechtigten waren durch die GPK vertreten, die als kritischer Sparringpartner des Gemeinderates wirkte. Auch sonst waren die Wege zwischen Stimmberechtigten und Gemeinderat kurz, zum Beispiel am Stammtisch.
Nun sind Sie Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Parlamentsfragen: Welche Vor- und Nachteile sehen Sie bei Gemeindeparlamenten?
Zu den Vorteilen gehören, dass Gemeindeparlamente eine Kontrollfunktion gegenüber der Exekutive und der Verwaltung ausüben, die inhaltliche Mitwirkung und Prüfung bei politischen Geschäften, strukturierte Debatten, die Möglichkeit von parlamentarischen Vorstössen für die Initiierung von politischen Vorhaben sowie eine Kontinuität bei der Bearbeitung von politischen Themen. Als Schwächen werden im Allgemeinen vorgebracht, dass Parlamente eine Parteipolitisierung der lokalen Politik nach sich ziehen, dass politische Lager gebildet werden und wie herausfordernd es ist, genügend interessierte Parlamentarierinnen und Parlamentarier zu finden.
Welche Faktoren sind ausschlaggebend dafür, ob sich eine Gemeinde für oder gegen ein Parlament entscheidet?
In der Deutschschweiz wurden jüngst nur wenige Parlamente eingeführt. Warum stimmte die Bevölkerung beispielsweise in Wetzikon (ZH) dem Systemwechsel hin zu einem Parlament zu? Die Parteien und die Exekutive waren sich mehrheitlich einig, dass der Schritt zum Parlament neue Möglichkeiten der politischen Mitwirkung böte. Das war einer der entscheidenden Faktoren. Bei denjenigen Gemeinden, in denen das Parlament abgelehnt wurde, fehlte dieser Konsens.
In der Westschweiz und im Tessin sind Gemeindeparlamente sehr verbreitet, in der Deutschschweiz weniger. Welche Erklärungen gibt es dafür?
Dies hat Michael Strebel im «Schweizerischen Parlamentslexikon» sehr schön herausgearbeitet. Es ist faszinierend, wie regional unterschiedlich sich der Parlamentarismus in der Schweiz entwickelt hat, und bis heute sind die Unterschiede deutlich ersichtlich. In der französischsprachigen Schweiz ist die Bevölkerung stärker geprägt von Parlamentsversammlungen; die ersten wurden bereits 1789 gegründet. In der Deutschschweiz gilt die Gemeindeversammlung als eigentliche Urform der Demokratie. Neue Parlamente haben es schwer. Mit der Einführung des Frauenstimmrechts haben sich einige Gemeinden für ein Gemeindeparlament entschieden, wobei zunächst auf Kantonsebene die Möglichkeit für die Einführung eines Parlaments geschaffen werden musste. Und nicht zu vergessen sind die Gemeinden, die sowohl über eine Gemeindeversammlung als auch ein Parlament verfügen, und Gemeinden, die auf beides verzichten.
Könnte man argumentieren, dass mit einem Parlament die Nähe des Gemeinderates zur Bevölkerung verloren geht?
Die Nähe der Regierung zur Bevölkerung konzentriert sich nicht auf die wenigen Gemeindeversammlungen im Jahr, an denen ohnehin nur eine überschaubare Anzahl Bürgerinnen und Bürger teilnimmt. Es gibt auch andere Instrumente für einen Austausch, ich denke an regelmässige öffentliche Sprechstunden oder digitale Mitwirkungsprozesse.
Mit welchen Herausforderungen sehen sich Gemeindeparlamente heute konfrontiert?
Jüngst war die COVID-19-Pandemie eine Herausforderung. Viele Parlamente haben im Nachgang darauf reagiert und gesetzliche Grundlagen geschaffen, um in Krisenzeiten ihre Sitzungen digital abhalten zu können. Eine Herausforderung für viele Gemeindeparlamente besteht auch darin, dass die Bevölkerung die Arbeit des Parlaments tatsächlich wahrnimmt. Dabei spielen die Medien eine wichtige Rolle, um die parlamentarischen Debatten und die Entscheide öffentlich zu machen.
In manchen Gemeindeparlamenten gibt es eine hohe Fluktuation der Mitglieder. Sehen Sie das als Problem? Wo könnte man ansetzen, um das zu verhindern?
Ein gewisser Wechsel ist normal und auch nicht problematisch. Neue Ideen werden ins Parlament eingebracht. Einige Rücktritte werden auch aus taktischen Überlegungen erfolgen. Die Gründe für eine hohe Fluktuation in Parlamenten wurden wissenschaftlich untersucht. Zurücktretende Parlamentarierinnen und Parlamentarier nennen beispielsweise die hohe Belastung und die schlechte Vereinbarkeit des Mandats mit Beruf und Familie als Gründe. Auf kommunaler Ebene wurde auch die geringe Entschädigung im Verhältnis zum Aufwand genannt.
Schweizerische Gesellschaft für Parlamentsfragen
Andrea Caroni, Ständerat von Appenzell Ausserrhoden, präsidiert seit 2020 die Schweizerische Gesellschaft für Parlamentsfragen. Kantonale und kommunale Parlamente, aber auch weitere Institutionen und Organisationen sind Mitglied bei der Gesellschaft. Diese fördert den Austausch zwischen Personen, die sich beruflich, wissenschaftlich oder in ihrer Eigenschaft als Ratsmitglieder mit Fragen der Kompetenzen, der Organisation und des Verfahrens von Parlamenten beschäftigen. Sie unterstützt zudem die wissenschaftliche Forschung zu Parlamenten, wie es auf ihrer Homepage heisst.