Gemeinden bringen Bewegung in die Alterspolitik (gemeinsames Tai-Chi in der Region Sursee im Kanton Luzern).

«Es braucht Investitionen in die älter werdende Gesellschaft»

02.08.2024
7-8 | 2024

Zehn Gemeinden und Regionen haben im Programm Socius 2 der Age-Stiftung lokale Netzwerke aufgebaut, um zu Hause lebende ältere Menschen vielfältig zu unterstützen. Programmleiterin Christiana Brenk zieht im Abschlussinterview Bilanz und erklärt, inwiefern der öffentlichen Hand und insbesondere den Gemeinden eine wichtige Rolle zukommt.

Christiana Brenk, das Programm Socius 2 hat sich ausdrücklich an die Gemeinden gerichtet: An ihnen sei es, Unterstützungssysteme für zu Hause lebende ältere Menschen zu organisieren. Hat sich diese Stossrichtung bestätigt?

Christiana Brenk: Ja, denn die Gemeinden sind am nächsten bei den älteren Menschen, auch wenn die Zuständigkeit je nach Kanton unterschiedlich geregelt ist. Die Gemeinden müssen die Angebote nicht selbst bereitstellen. Sie sind aber gut beraten, die verschiedenen professionellen und zivilgesellschaftlichen Dienstleister und Organisationen rund um das Thema Alter zu vernetzen. Ich wüsste keinen Akteur, der geeigneter wäre, diese anstossende, koordinierende Rolle zu übernehmen. Wir hatten in Socius 2 auch Regionen, in denen mehrere Gemeinden zusammen tätig geworden sind. Das finde ich ebenfalls Erfolg versprechend.

Wie merkt es die ältere Bevölkerung, dass Akteure vermehrt zusammenwirken, von der Spitex bis zum Quartierverein, von der Altersorganisation bis zur Kirchgemeinde, von der Demenztagesstätte bis zur Nachbarschaftshilfe?

Die ältere Bevölkerung wird selbst in das Netzwerk einbezogen, etwa beim gemeinsamen Erarbeiten eines neuen Altersleitbilds. Zudem erlaubt es das Netzwerk, ältere Menschen und ihre Angehörigen gut über die Unterstützungsangebote für das Wohnen zu Hause zu informieren. Information ist ein Schlüsselfaktor. Das Programm hat gezeigt, wie wichtig es ist, die Bevölkerung immer und immer wieder zu informieren. Es genügt nicht, einmalig eine Broschüre zu verfassen.

Wie gelingt es, ein Unterstützungsnetzwerk aufzubauen?

Mit viel Zeit und viel Kommunikation, wie uns das Programm lehrt. Zeit heisst immer auch: eine gewisse Investition der Gemeinde. Enorm hilfreich ist der politische Wille. Gemeinderätinnen, Gemeinderäte, die hinstehen und sich für die Sache einsetzen. Denn oft kommt es nicht zu schnellen Ergebnissen. Es ist eine beharrliche Arbeit an den Strukturen, die wenig sichtbar, aber lohnend ist. Vernetzung bedeutet nicht einfach ein bisschen reden. Sie hat einen Wert und gibt einen guten alterspolitischen Boden.

Wie viel Verbindlichkeit von den Dienstleistern kann die Gemeinde erwarten?

Die Gemeinde kann Verbindlichkeit herstellen, indem sie gemeinsam mit den Organisationen ein Altersleitbild oder -konzept erarbeitet. Wo Leistungsvereinbarungen vorhanden sind, kann sie über diese die Zusammenarbeit fördern. Wir haben die Akteure im Programm aber nicht als Bremser erlebt. Das Gärtchendenken von früher ist unter dem Eindruck des demografischen Wandels zurückgegangen.

«Viele ältere Menschen sind eine Ressource, weil sie sich engagieren möchten.»

Christiana Brenk, Leiterin Programm Socius

Was sollten die Gemeinden sonst noch beachten?

Sehr bewährt hat sich Partizipation, also die ältere Bevölkerung vor Ort zu fragen, was sie benötigt. Da kommen Antworten, die man erst aus der persönlichen Perspektive des Alters wahrnimmt – etwa wie schwer es ist, von einer Sitzbank ohne Lehne aufzustehen. Wenn die älteren Leute von Anfang an mitreden, werden nicht irgendwelche Massnahmen umgesetzt, sondern die richtigen. Ein neues, interessantes Element, das einige Socius-Projekte eingeführt haben, ist die aufsuchende Altersarbeit.

Wie sieht diese aus?

Aufsuchend bedeutet, dass die Fach- und Ansprechpersonen dorthin gehen, wo die älteren Menschen sind, zum Beispiel vor ein Einkaufs- und Quartierzentrum in der Stadt Aarau. Damit das Konzept funktioniert, braucht es Orte im Quartier, wo ältere Menschen anzutreffen sind. Denn anders als die Jungen verweilen Ältere nicht im öffentlichen Raum, sondern suchen gezielt Orte auf, etwa einen Laden oder ein Café.

Die Age-Stiftung lancierte das Programm Socius 2014. Wo stehen wir zehn Jahre später, wenn Socius endet?

Mehr Gemeinden haben sich auf den Weg gemacht. Die Einsicht wächst, dass die Gesundheit und das Soziale zusammengehören. Dass mehr Pflegebetten nicht die einzige Reaktion auf die wachsende Zahl älterer Menschen sein können. Dass es nicht mehr um ein «Versorgen» geht, sondern um selbstbestimmtes Wohnen, Alltagshilfe, Möglichkeiten, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Viele ältere Menschen sind da auch eine Ressource, weil sie sich engagieren möchten. Was den Gemeinden die Arbeit erschwert, sind die gesetzlichen Finanzierungsströme. Diese trennen zwischen Pflege und Betreuung und hinken hinter der gesellschaftlichen Entwicklung her.

Da ist der Bund gefragt?

Bei den Sozialversicherungen ist der Bund gefragt. Über alle politischen Ebenen sollte es normal werden, in gesellschaftliche Themen zu investieren. So wie Bauten und Energiewerke instandgehalten werden, braucht es kontinuierliche Investitionen in die älter werdende Gesellschaft. Werden diese nicht getätigt, steigen langfristig die Kosten.

Wissen für Gemeinden

Das fachkundig begleitete Programm Socius 2 dauerte von 2019 bis 2023. Zehn Gemeinden und Regionen von Riehen (BS) bis Wittenbach (SG), von der Region Sursee (LU) bis zum Gantrischgebiet (BE) nahmen teil. Wie schon im Vorgängerprogramm Socius 1 ist Wissen entstanden, das anderen Gemeinden zur Verfügung steht. Alle Informationen und Ergebnisse finden sich auf www.programmsocius.ch.

Susanne Wenger
Freie Journalistin