«Eine Fusion hilft nicht, Exekutivmitglieder zu finden»

21.02.2022
1/2 | 2022

In einer Studie hat die Fachhochschule Graubünden 46 Gemeindefusionen in fünf Kantonen untersucht. Empirisch lasse sich vor allem eine Verbesserung in der Professionalisierung, Aussenwirkung und Standortattraktivität nachweisen, sagt Professor und Studienautor Ursin Fetz. 

Schweizerischer Gemeindeverband: In der Schweiz hat die Zahl der Gemeinden in den letzten zehn Jahren aufgrund von Fusionen um fast 400 abgenommen. Begründet werden Gemeindefusionen oft mit Einsparungsmöglichkeiten, die sich daraus ergeben würden. Wie gross ist dieser Spareffekt bei den von Ihnen untersuchten Gemeinden wirklich?

Ursin Fetz: Die Ergebnisse sind uneinheitlich. Bei der Mehrheit der von uns im Projekt «Fusions-Check» untersuchten Gemeinden führte die Fusion zu einem positiven Effekt in Bezug auf die Finanzen. Bei einer substanziellen Minderheit hat sich die finanzielle Lage indes verschlechtert.

Es gibt zudem Gemeinden, bei denen klar ist, dass sie bei einer Fusion einen Spareffekt erzielen könnten. Wenn es dann aber am politischen Willen fehlt, entsprechende Massnahmen auch umzusetzen, bleibt der Spareffekt am Ende aus und ist dann auch statistisch nicht auszuwerten. Die Finanzen sollten nie der alleinige Grund sein, um eine Fusion ins Auge zu fassen.

Viele Gemeinden versprechen sich bei einer Fusion auch eine Professionalisierung der Dienstleistungen. Inwiefern ist das bei den untersuchten Gemeinden eingetreten?

Fetz: In diesem Bereich sehen wir eine deutliche Verbesserung. Vor allem kleinere Gemeinden, die mit grösseren Gemeinden fusionieren, können von deren Serviceleistungen profitieren. Dies betrifft beispielsweise die telefonische Erreichbarkeit der Verwaltung oder auch Stellvertreterregelungen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich die fusionierten Gemeinden in den Kriterien «Professionalität», «Aussenwirkungen» und «Standortattraktivität» eindeutig verbessert haben.

Viele Gemeinden haben Mühe, genügend Behördenmitglieder zu finden. Ändert eine Fusion diesen Umstand?

Fetz: Die schwierige Suche nach Behördenmitgliedern ist einer der wichtigsten Gründe, weshalb Gemeinden fusionieren wollen. Die Resultate unserer Untersuchung sind diesbezüglich leider ernüchternd: Eine Fusion hilft nicht, mehr Kandidatinnen und Kandidaten für ein solches Mandat zu finden

Wieso bleibt diese Suche auch nach einer Fusion weiterhin schwierig?

Fetz: Ich vermute, dass sich die Leute ein politisches Amt in einer grösseren Gemeinde noch viel weniger zutrauen als in einer kleinen Gemeinde. Zwar werden die Mandate in einer grösseren Gemeinde allenfalls attraktiver, aber je nachdem eben auch komplexer. Trotz 20 Jahren Gemeindefusionserfahrung in der Schweiz bleibt die Rekrutierung für Behördenmandate nach wie vor eine Herausforderung.

Wie kann eine Gemeinde die Rekrutierung von Behördenmitgliedern denn verbessern?

Fetz: Wenn eine Gemeinde Rekrutierungsschwierigkeiten hat, muss sie die gesamte Klaviatur an Möglichkeiten durchspielen. Deshalb sollte sie zum Beispiel auf die heute untervertretenen Jungen, Frauen und Pensionierten zugehen. Ein guter Einstieg in die Behördenarbeit bieten zudem Kommissionen, ob das nun eine Schulkommission oder die Kommission für den Neubau einer Turnhalle ist. Mit der Arbeit in einer Kommission holen sich deren Mitglieder Kompetenzen für weitere Ämter. Bei Neuwahlen lohnt es sich deshalb, die bestehenden Kommissionen nach möglichen Kandidatinnen und Kandidaten abzuklappern.

In einer grösseren Gemeinde gibt es vermutlich weniger Verflechtungen von Wirtschaft und Politik. Wie hat sich dies in fusionierten Gemeinden verändert?

Fetz: Dies zu messen, ist sehr schwierig. Grundsätzlich lässt sich aber zumindest sagen, dass die Bürgerinnen und Bürger sowohl vor wie auch nach einer Fusion ein hohes Vertrauen in die Gemeindepolitik haben. Ein bisschen anders verhält es sich mit der Bürgernähe: Nimmt man den Anteil angenommener Vorlagen als Indikator dafür, so lässt sich festhalten, dass diese in den untersuchten Gemeinden leicht zurückgegangen ist.

Dann birgt eine Fusion wohl auch die Gefahr eines Identifikationsverlusts mit der Gemeinde?

Fetz: Das ist die grosse Angst der Fusionsgegner. Dies können wir mit unseren Untersuchungen so nicht bestätigen. Das war für uns eine eher überraschende Erkenntnis.

Wenn die Einwohnerinnen und Einwohner auch nach einer Fusion in den betroffenen Gemeinden wohnen bleiben, kann man davon ausgehen, dass sie sich dort weiterhin wohlfühlen und sich auch mit der neuen Gemeinde identifizieren, ohne den Bezug zur «alten Gemeinde» zu verlieren.

Welche Alternativen gibt es eigentlich für Gemeinden, die sich zwar zusammenschliessen, aber nicht gleich fusionieren möchten?

Fetz: Die interkommunale Zusammenarbeit ist die meistgenannte Alternative. Sie bietet den Vorteil, dass man den Partner flexibel auswählen kann und je nach Aufgabe mit unterschiedlichen Gemeinden zusammenarbeitet. Der Nachteil ist allerdings, dass solche Zusammenarbeitsformen meistens einen hohen Koordinationsaufwand mit vielen Sitzungen nach sich ziehen. Die Frage stellt sich dann, wer an diesen Sitzungen teilnimmt. Die Gemeinden müssen ja jemanden delegieren, und häufig sind dies dann wiederum die Exekutivmitglieder. Einen weiteren Nachteil der interkommunalen Zusammenarbeit sehe ich in einem möglichen demokratischen Defizit.

Können Sie ein Beispiel dazu machen?

Fetz: Interkommunale Zusammenarbeit basiert auf Verträgen, die von den Gemeindevertretern erarbeitet worden sind. Der Bürger und die Bürgerin können an der Gemeindeversammlung oder an der Urne nur noch Ja oder Nein sagen zu einem Geschäft, Anpassungen sind aber nicht mehr möglich. Handelt es sich demgegenüber um ein gemeindeeigenes Thema, dann kann er bzw. sie an der Gemeindeversammlung beim entsprechenden Traktandum aufstehen und konkrete Anpassungsanträge machen.

Was ist denn nun Ihr Fazit aufgrund der von Ihnen durchgeführten Evaluation der wirtschaftlichen, demokratischen und gesellschaftlichen Effekte bei Gemeindefusionen?

Fetz: Wir kommen zu einem relativ nüchternen Ergebnis: Die Befürchtungen der Fusionsgegner sind grösstenteils unbegründet, vor allem in Bezug auf die abnehmende Identifikation mit der Gemeinde. Aber auch die Euphorie der Fusionsbefürworter ist übertrieben. Wichtig erscheint mir, dass die Fusion auch als strategische Chance verstanden wird und nicht nur als «technisches Projekt» umgesetzt wird.

 

Ein Leitfaden für Gemeindefusionen im Kanton Thurgau

Der Verband Thurgauer Gemeinden (VTG) hat mit der Unterstützung der Fachhochschule Chur einen Leitfaden für Gemeindefusionen im Kanton Thurgau erarbeitet. Auf 20 Seiten gibt der Leitfaden von den Herausforderungen für Gemeinden im 21. Jahrhundert bis zur Checkliste den Gemeindebehörden theoretische und praktische Instrumente in die Hand.

Der VTG-Vorstand begründet die Notwendigkeit eines Leitfadens für den Thurgau. «Die gesellschaftlichen Forderungen nach neuen und qualifizierten Dienstleistungen der öffentlichen Hand, stellen viele Gemeinden vor grosse Herausforderungen. Die Rahmenbedingungen haben sich verändert und manche Dienstleistungen können effizient und effektiv nur durch die Nutzung von Skaleneffekten erbracht werden. Aufgrund der praktischen Erfahrungen ist es offensichtlich, dass kleinere Gemeinden vor grossen strukturellen Problemen stehen.» 

Ziel des VTG sei es, das Thema zu enttabuisieren und eine Hilfestellung für die Gemeinden zu bieten. Der Leitfaden für Gemeindefusionen soll Diskussionen fördern und den Weg für strukturelle Optimierungen von «innen heraus» ermöglichen.

 Knapp über 50 Prozent der Gemeinden im Kanton Thurgau stehen einer Fusion positiv gegenüber. Es befindet sich allerdings aktuell keine Gemeinde in einem laufenden Prozess. VTG-Geschäftsführerin Chandra Kuhn betont, es sei dem Vorstand des Verbands Thurgauer Gemeinden wichtig aktiv zu werden, bevor die Thurgauer Politik den Anstoss gibt. «Die Thurgauer Gemeinden haben gestützt auf §58 der Kantonsverfassung Gewährleistung auf Bestand. Die Initiative für mögliche Gemeindezusammenschlüsse soll aus Sicht des VTG aus den Kreisen der betroffenen Gemeinden erfolgen. Der Leitfaden für Gemeindefusionen übernimmt dazu die Rolle zur Aufklärung sowie Sensibilisierung und bildet eine Entscheidungshilfe für die Initiierung von Projekten.»