Parlamentarismusforscher Dr. Michael Strebel lehrt derzeit an der Fachhochschule Nordwestschweiz, der Fernuni Hagen und der Berliner Hochschule für Wirtschaft und Recht.

Ein Rezept gegen halb leere Gemeindeversammlungen?

02.05.2023
5 l 2023

Gerade einmal jede fünfte Gemeinde in der Schweiz verfügt über ein eigenes Parlament – und die meisten davon liegen in der Romandie. Was das für die kommunale Politik bedeutet, erklärt Parlamentarismusforscher Michael Strebel.

Die 28 000-Einwohner-Stadt Rapperswil-Jona bleibt die grösste Schweizer Gemeinde ohne Parlament. Die Stimmbevölkerung hat die Einführung eines Stadtparlaments im März abgelehnt. Überraschenderweise, sagen Sie.

Michael Strebel: Bislang stimmte die Bevölkerung der Einführung von Gemeindeparlamenten jeweils zu, wenn sich der Stadtrat ebenfalls dafür ausgesprochen hatte. In Rapperswil-Jona ist es nun anders gekommen: Obwohl der Stadtrat und auch die Parteien für die Schaffung eines Stadtparlaments warben, hat die Stimmbevölkerung an der Urne Nein gesagt.

Wieso kam es diesmal anders?

Das ist schwierig zu sagen. Klar ist, dass sich in Rapperswil-Jona ein starkes Nein-Komitee gebildet hat, das pointiert aufgetreten ist, mobilisieren konnte und es geschafft hat, die bisherige Erkenntnis zu widerlegen.

«In der Deutschschweiz gilt die Gemeindeversammlung oft als eigentliche Urform der Demokratie.»

Dr. Michael Strebel

Sie werden immer wieder angefragt, ob die Einführung eines Parlaments in dieser oder jener Gemeinde Sinn ergeben würde. Bejaht der Parlamentarismusforscher diese Frage in der Regel?

Man muss die Situation jeweils im Einzelfall beurteilen. Wie ist die Teilnehmerzahl an den Gemeindeversammlungen, wie hat sie sich entwickelt? Kann die Bevölkerung effektiv Einfluss nehmen auf die politischen Geschäfte? Es gilt, eine Analyse aufgrund gewisser objektiver Kriterien vorzunehmen. Dementsprechend ist meine Antwort auch nicht einfach «Ja, sie sollten ein Parlament einführen» – obwohl ich Parlamentarismusforscher bin. Das wäre unsinnig.

Von den 2136 Schweizer Gemeinden haben nur 458 ein eigenes Parlament. Ist ein Parlament auf Gemeindestufe für viele Kommunen also ein untaugliches Instrument?

Untauglich würde ich nicht sagen. Es kommt sehr auf die Gemeindestruktur an. Zudem gibt es Kantone, die die Einführung von Gemeindeparlamenten von vornherein ausschliessen. Umgekehrt darf es in den Kantonen Neuenburg und Genf nur Gemeindeparlamente geben – Gemeindeversammlungen sind nicht vorgesehen.

In der Deutschschweiz verfügen nur 79 Gemeinden über ein Parlament. Die Parlamentsmentalität ist weit weniger stark ausgeprägt als in der Romandie. Woran liegt das?

Das hat in erster Linie historische Gründe. In der französischsprachigen Schweiz ist die Bevölkerung stärker geprägt von Parlamentsversammlungen. Die ersten Gemeindeparlamente wurden hier bereits 1789 gegründet, zur Zeit der Französischen Revolution. In der Deutschschweiz gilt dagegen oft die Gemeindeversammlung als eigentliche Urform der Demokratie. Erst als diese nach Einführung des Frauenstimmrechts plötzlich viel grösser wurden, haben sich einige Gemeinden für die Installation eines Gemeindeparlaments entschieden.

Welche Vorteile, die man in der Deutschschweiz offenbar weniger wahrnimmt, sieht die Westschweiz im Gemeindeparlament?

Mit einem Gemeindeparlament hat man Parlamentarierinnen und Parlamentarier, die für eine Legislaturperiode gewählt sind. Das gewährleistet eine gewisse Kontinuität. Und: Ein Parlament kann sich mit politischen Geschäften auf andere Art und Weise auseinandersetzen, als dies eine Gemeindeversammlung tun kann. Die Dossiers werden eingehender geprüft, und es sind auch grössere Abänderungen möglich.

Was vielleicht nicht unbedingt im Sinne des Gemeinderats ist. Für die Exekutive dürfte es ja ganz «gäbig» sein, wenn ihr niemand allzu stark auf die Finger schaut …

Ja, aber oftmals ist es genau umgekehrt. Dass also die Exekutive findet: Um die Gemeinde voranzubringen, müssen wir ein politisches Gegenüber haben. Klar: Gerade auf Stufe Gemeinde nimmt die Exekutive eine starke Rolle ein. Gegenüber einem Parlament wird sie aber anders ausgelebt als gegenüber einer Gemeindeversammlung.

«Ein Parlament kann sich mit politischen Geschäften auf andere Art und Weise auseinandersetzen, als dies eine Gemeindeversammlung tun kann.»

Dr. Michael Strebel

Demgegenüber ist der grosse Nachteil des Parlamentssystems bekannt: Viele Gemeinden hätten Mühe, genügend Kandidatinnen und Kandidaten für ein Amt im Gemeindeparlament zu finden.

Es gibt in der Schweiz 458 Gemeindeparlamente. Nicht alle haben Mühe, genügend Leute zu finden. Aber es ist natürlich schon so: Es gibt Gemeinden und Parteien, die Schwierigkeiten haben, Kandidatinnen und Kandidaten zu finden. Meiner Ansicht nach ist es eine der grundlegenden Aufgaben der Parteien, sich zu überlegen, wie man Menschen für ein Milizamt, auch für die Exekutive, begeistern kann. Wobei ja gerade die lokale Ebene für den Einstieg absolut spannend ist. Man ist nahe an den Leuten, kann etwas bewegen.

Laut Umfragen entspricht ein Amt im Gemeindeparlament einem durchschnittlichen Arbeitspensum von knapp zehn Prozent. Die Entschädigung liegt aber oft deutlich tiefer. Müsste man hier den Hebel ansetzen?

Die öffentliche Meinung ist wohl, dass Politiker viel verdienen. Die Realität ist aber eine andere. Gerade in Gemeindeparlamenten ist die Entschädigung – nun ja – «human». Man erhält ein Sitzungsgeld, und damit hat sichs – der ganze Aufwand wird sicherlich nicht gedeckt. Die Entschädigung sollte also definitiv kein Tabu sein. Gleichzeitig bin ich mir bewusst, wie schwierig es ist, wenn sich Politiker selbst den Lohn festlegen. Was ich sagen kann, ist, dass die Entschädigung der Gemeindeparlamentarier sicher nicht zu hoch ist.

Das schweizerische Parlamentslexikon

Dr. Michael Strebel (*1977) ist Politikwissenschaftler mit den Schwerpunkten politische Systeme und Parlamente. Unter anderem berät er politische Institutionen. Zuletzt erschien von ihm das Werk «Das schweizerische Parlamentslexikon», in dem er sämtliche Gemeinde-, Kantons- und Bundesparlamente der Schweiz eingehend analysiert. Das 568 Seiten starke Buch erschien kürzlich im Verlag Helbing Lichtenhahn und beinhaltet ebenfalls ein Lexikon, in dem rund 600 Parlamentsbegriffe definiert werden.

Fabio Pacozzi
Schweizerischer Gemeindeverband
Leiter Kommunikation