«Die ukrainischen Kinder brauchen Zeit»
Viele Gemeinden haben in den letzten Wochen ukrainische Kinder in ihre Schulklassen integriert. So auch Val-de-Travers (NE). Gemeinderat Christophe Calame findet es wichtig, die Kinder zwar rasch einzuschulen, sie gleichzeitig aber nicht zu überfordern.
Aus der Heimat flüchten, Freunde und teils auch Familie zurücklassen und wenige Tage später in einem Schweizer Schulzimmer sitzen: So ergeht es derzeit zahlreichen ukrainischen Kindern und Jugendlichen. Bund und Kantone möchten die Flüchtlingskinder so rasch wie möglich in die Regelklassen integrieren. Das fordert die Gemeinden.
Val-de-Travers (NE) hat damit schon einige Erfahrungen gesammelt. Seit Anfang April besuchen ukrainische Kinder Regelklassen der dortigen Primarschule. Zusätzlich befindet sich in Couvet, einem Dorf der Gemeinde, ein Empfangszentrum für Flüchtlinge. Es stand einige Jahre leer, bis es mit Ausbruch des Ukraine-Krieges wieder in Betrieb genommen wurde. «Wir wussten, dass ziemlich rasch ziemlich viele Ukrainerinnen und Ukrainer ins Zentrum kommen würden», erzählt Gemeinderat Christophe Calame, der für die Jugend und Bildung zuständig ist.
Rasch aktiv geworden
Die Schuldirektion habe sich entsprechend vorbereitet. «Wir wollten nicht warten, bis die Flüchtlinge ins Schulsekretariat kommen, sondern selbst aktiv werden.» Die Schuldirektion besprach sich mit Freiwilligen, die Ukrainisch und Russisch sprechen und anschliessend ins Zentrum gingen, erklärten, wie das Schulsystem in der Schweiz funktioniert und Einschreibungen für die Schule entgegennahmen.
Doch nicht nur die Schuldirektion war schnell aktiv geworden, sondern auch der Kanton. Er organisierte Unterkünfte für die Ukrainerinnen und Ukrainer, die in Couvet untergebracht waren. Die Leute blieben teils nur einige Tage im Zentrum, bevor sie weiter in eine Wohnung oder zu einer Gastfamilie zogen. «Wir haben realisiert, dass es keinen Sinn ergibt, Kinder in die Regelklassen zu integrieren, die vielleicht nur einige Tage in Couvet sind», so Calame.
Deshalb habe man sich zusammen mit dem Kanton entschieden, eine spezielle Empfangsklasse für die Flüchtlingskinder aus dem Zentrum zu eröffnen. Gruppiert nach Alter erhalten sie so einige Stunden Französischunterricht pro Woche. Die Gemeinde stellt die Infrastruktur in einem ihrer Schulhäuser zur Verfügung; der Kanton finanziert den Lohn der Lehrperson.
Gleichgewicht finden
«Nur jene Kinder, die länger in unserer Gemeinde bleiben, weil sie hier mit ihrer Familie eine Wohnung gefunden haben oder in einer Gastfamilie untergebracht sind, werden auch in Regelklassen integriert», erklärt Christophe Calame. Die Integration von Flüchtlingskindern in den Schulbetrieb sei an sich nichts Neues, das komme immer wieder vor. «Die Kinder erhalten am Anfang Unterstützung, um Französisch zu lernen.» Der Anfang sei schwierig, aber nach einigen Monaten funktioniere es meist gut. Die Kinder lernten schnell.
«Diese Kinder haben teils traumatische Erlebnisse gemacht. Das müssen wir unbedingt beachten.»
Die Herausforderung sei es, die Klassen nicht zu sehr zu destabilisieren, aber auch die ukrainischen Kinder nicht zu überfordern. «Diese Kinder haben teils traumatische Erlebnisse gemacht. Das müssen wir unbedingt beachten.» Es gelte, ein Gleichgewicht zwischen der Integration und dem individuellen Rhythmus der Kinder zu finden. In der Gemeinde hätten sich glücklicherweise einige Freiwillige gemeldet, die Ukrainisch oder Russisch sprechen und beruflich einen psychologischen Hintergrund hätten. Sie könnten die Familien unterstützen.
Für die Schulklassen ist es gemäss Christophe Calame kein Problem, wenn ein oder zwei Flüchtlingskinder dazukämen. Würden drastisch mehr Familien ankommen, so werde man die Kinder über den ganzen Schulkreis verteilen und versuchen, den Transport zu organisieren. «Es wird sich noch zeigen, wie wir dann vorgehen.»
Besser abwarten
Anderen Gemeinden rät Calame, etwas abzuwarten mit der Einschulung und nichts zu überstürzen. «Es ist sicher richtig, die Kinder rasch zu integrieren. Gleichzeitig kann sich aber die Situation rasch ändern, und die Familie entscheidet sich vielleicht, an einen anderen Ort zu ziehen.» Es lohne sich, abzuwarten, bis sich die Situation stabilisiert habe. Jeder Fall müsse individuell angeschaut werden. «Die Kinder und ihre Familien brauchen nach der Flucht etwas Zeit sowie jemanden, der ihnen zuhört und sie berät.»
Er sieht die Ankunft der Flüchtlinge als Chance an, gerade auch für die Schulen. «Wir können lernen, zusammen zu leben und offen zu sein gegenüber einer anderen Kultur. Wir sollten die Situation als Möglichkeit sehen, uns in Toleranz zu üben.»
Informationen:
Der Schweizerische Gemeindeverband hat auf seiner Homepage verschiedene hilfreiche Informationen zum Thema ukrainische Flüchtlinge zusammengestellt und aktualisiert diese laufend: www.chgemeinden.ch