Die Studie zeigt: Grundsätzlich wird die Vielfalt in der Schweiz begrüsst.

«Die Schweiz erfindet sich immer wieder neu»

08.09.2024
9 | 2024

Eine neue Studie des Gottlieb Duttweiler Institute (GDI) im Auftrag des Migros-Kulturprozents hat die Vielfalt in der Schweiz untersucht. Sie zeigt auf, dass sich manche Gruppen kaum begegnen. Der Wunsch nach mehr Austausch wäre aber da. Studienautor Jakub Samochowiec sieht in den Resultaten auch Chancen für Gemeinden und die Milizarbeit.

Jakub Samochowiec, Sie haben sich mit der Studie «Gemeinsam verschieden?» intensiv mit dem Thema Vielfalt beschäftigt. Wie stehen die Menschen in der Schweiz zu Vielfalt?

Die Schweiz ist mit vier Landessprachen, 26 relativ eigenständigen Kantonen und einem Drittel der Wohnbevölkerung, die im Ausland geboren wurde, ein sehr vielfältiges Land. Viele empfinden Vielfalt als positiv: 50 Prozent sind der Meinung, Vielfalt mache die Schweiz aus. 30 Prozent stimmen dem teilweise zu. Ebenso viele finden es gut, ist die Schweiz in den letzten Jahrzehnten vielfältiger geworden. Jeweils 15 Prozent sehen das aber ganz anders.

Wie sieht die Realität aus? Inwiefern begegnen sich die verschiedenen Gruppen wie «Alt und Jung», «Arm und Reich», «politisch rechts und links»?

Das ist je nach Gruppe sehr unterschiedlich. Insgesamt sagen zwischen 15 und 30 Prozent, sie kennen niemanden aus der jeweiligen Gegengruppe. Bei den Armen kennt die Hälfte niemanden, der reich ist. Also eine Person, die über eine Million Franken Vermögen hat oder Häuser besitzt. Gerade die Hochgebildeten kennen kaum jemanden, der keine nachobligatorische Schulbildung hat. Bei der politischen Haltung ist es so, dass es eigentlich schon Kontakte zwischen Andersdenkenden gibt. Was spannend ist: Viele sagen, sie kennen die politischen Positionen der anderen nicht. Sie sprechen lieber nicht darüber.

Was ist der Grund dafür, dass die verschiedenen Gruppen unter sich bleiben?

Die allermeisten derjenigen ohne Bekanntschaften geben an, solchen Menschen schlicht nicht zu begegnen. Aber nicht, dass sie dies grundsätzlich nicht möchten. Was auffällt: Je mehr Bekanntschaften jemand zu Gegengruppen hat, desto positiver ist seine Einstellung ihnen gegenüber.

Wie steht es um den Austausch zwischen den Sprachregionen?

Aus der Deutschschweiz geben ganze 40 Prozent an, niemanden aus der Romandie oder aus dem Tessin zu kennen. Weitere 35 Prozent kennen wenige. Auf den anderen beiden Seiten ist das etwas weniger ausgeprägt. Trotz der insgesamt wenigen Kontakte, sind die Einstellungen zu den anderen Sprachregionen sehr positiv.

Wünschen sich die Menschen in der Schweiz denn mehr Austausch mit anderen?

Das kommt auf die betreffende Gruppe an. Tendenziell bevorzugen Menschen kleine Unterschiede, also lieber Menschen aus dem Tessin als Asylsuchende.

Wo sehen Sie für Gemeinden Potenzial, Menschen aus verschiedenen Bubbles zusammenzubringen?

Gemeinden könnten beispielsweise attraktive öffentliche Orte schaffen, wo alle gerne flanieren, sich aufhalten, mit ihren Kindern spielen. So besteht die Gelegenheit, dass man sich zumindest sieht und damit schon gewisse Hemmungen abbaut.

Wie wichtig sind soziale oder politische Engagements?

Drei Viertel derjenigen, die in einem Verein aktiv sind oder sich sozial engagieren, geben an, dass diese Tätigkeiten ihren Bekanntenkreis vielfältiger gemacht haben. 60 Prozent der politisch Engagierten empfinden das ebenfalls so. Bei solchen Engagements kommt man fast zwangsläufig mit Leuten in Kontakt, die anders sind. Gerade in der Gemeindepolitik ist das Vermitteln zwischen Gruppen mit unterschiedlichen Interessen, also eigentlich das Management von Vielfalt, zentraler Aspekt der Arbeit. 

«Es ist wichtig, dass Gemeinden attraktive öffentliche Orte schaffen.»

Dr. Jakub Samochowiec, Senior Researcher und Speaker am Gottlieb Duttweiler Institute

In den Medien werden jüngere Menschen oft als tolerante Gruppe dargestellt. Kommt die Studie zum selben Schluss?

Jüngere Menschen sind sehr polarisiert gegenüber vielen Minderheiten, auch wenn die Medien sie häufig als fortschrittlich darstellen. Bei den unter 25-Jährigen ist der Anteil derjenigen mit positiven Gefühlen wie auch mit negativen Gefühlen gegenüber Gruppen wie etwa Veganerinnen und Veganern, trans- und non-binären oder homosexuellen Personen am höchsten. Je älter die Leute, desto neutraler sind sie gegenüber anderen eingestellt.

Was könnte das für die Jugendarbeit bedeuten?

Kontakt zu anderen, sei das nun persönlich oder medial, ist wichtig. So sucht das Migros-Kulturprozent im Rahmen der Vielfaltsinitiative beispielsweise mit einer Kampagne Brückenbauerinnen und Brückenbauer, die zwischen den Kreisen vermitteln.

Sie haben sich lange und intensiv mit dem Thema Vielfalt beschäftigt. Was erhoffen Sie sich von der Studie?

Dass wir Vielfalt umfassender verstehen. Vielfalt ist ein Teil der Schweiz. Und die Schweiz erfindet sich immer wieder neu. Auf individueller Ebene würde ich mich freuen, Leute dazu anzuregen, etwas auszuprobieren. Im besten Fall, sich sozial zu engagieren. Und sich selbst zu hinterfragen: Bin ich eigentlich in einer Bubble, und woran liegt das?

Studie und Initiative

Auftraggeberin der Studie «Gemeinsam verschieden? Die grosse Schweizer Vielfaltsstudie» ist das Migros-Kulturprozent. Die Migros engagiert sich für den sozialen Zusammenhalt in der Gesellschaft und fördert Toleranz, Verständnis und Vielfalt. Die Studienergebnisse haben das Migros-Kulturprozent darin bestärkt, eine breit angelegte Mitmachinitiative zu lancieren, um die Vielfalt in den kommenden Monaten für die gesamte Schweizer Bevölkerung erlebbar zu machen. 

Mehr Informationen: engagement.migros.ch/vielfalt

Monica Müller
Migros-Genossenschafts-Bund