Der Politikwissenschaftler Adrian Vatter glaubt, dass Gemeindepolitikerinnen und -politiker im nationalen Parlament das Funktionieren des politischen Systems der Schweiz stärken.

«Die ‹Ochsentour› ist nach wie vor sehr wichtig»

15.12.2023
12 l 2023

Die Schweiz hat ein neues Parlament. Unsere Auswertung zeigt: 60 Prozent aller Nationalrätinnen und Nationalräte waren oder sind politisch in einer Gemeinde tätig. Prof. Adrian Vatter erklärt, wieso das gut ist für die Schweiz.

Adrian Vatter, das Ergebnis der nationalen Wahlen kurz zusammengefasst: Die SVP gewinnt, die Grünen und Grünliberalen verlieren. Was bedeutet dieses Resultat für die Institution Gemeinde?

Das Resultat bedeutet zunächst eine recht hohe Stabilität. Für die Gemeinden hat es nicht die ganz grossen Auswirkungen. Man kann es so interpretieren, dass die ländlichen Regionen leicht zugelegt und die urbanen Zentren eher verloren haben. SVP-Vertreterinnen und -vertreter haben ihre Karriere häufig als Gemeinderäte gestartet. Das zeigt sich auch darin, dass viele jener Nationalrätinnen und Nationalräte, die auch ein kommunales Amt bekleiden, der SVP oder der Mitte angehören.

Politisieren gewisse Parteien «gemeindefreundlicher» als andere?

Grundsätzlich befürworten alle Parteien die föderale Grundstruktur der Schweiz und die Autonomie der Gemeinden. Die Schweizer Parteien sind ja selbst föderalistisch organisiert. Linke Parteien stehen tendenziell eher für eine stärkere Zentralisierung und eine Stärkung des Bundes ein. Die Mitte und die SVP hingegen setzen sich eher für die Stärkung der unteren Staatsebenen ein.

Woher kommt das?

Bei der politischen Linken hat es seinen Ursprung im demokratisch-zentralistischen Politikmodell der sozialistischen Bewegung. Die SVP sowie die Mitte kommen stärker aus der genossenschaftlichen, landwirtschaftlichen Tradition. Die Autonomie kleiner Körperschaften hat bei diesen Parteien einen hohen Stellenwert.

Unsere Auswertung zeigt, dass eine Mehrheit der gewählten Nationalrätinnen und Nationalräte einen kommunalen Hintergrund hat, nämlich rund 60 Prozent. Wie wirkt sich diese Gemeindeerfahrung auf die Bundespolitik aus?

Die kommunale Erfahrung hat positive Auswirkungen auf die Bundespolitik. Insbesondere auf die wichtigste Aufgabe des Parlaments, die Gesetzgebung. Wer bereits auf kommunaler Ebene politisch aktiv war, kann beim Entwurf neuer Gesetze besser einschätzen, inwiefern diese in den Gemeinden umsetzbar sind. Solche Personen sorgen also dafür, dass praktikable und vollzugstaugliche Gesetze verabschiedet werden.

Setzen sich die Mitglieder von kommunalen Behörden auf Bundesebene auch konkret für ihre Gemeinde ein?

Eine Studie hat diese Frage auf Kantonsebene untersucht und ist zum Schluss gekommen, dass Gemeindepolitikerinnen und -politiker in Kantonsparlamenten konkret Einfluss im Interesse ihrer Gemeinde nehmen. Zum Beispiel wenn es um den Bau einer Umfahrungsstrasse geht. Zur Bundesebene gibt es meines Wissens keine solche Studie. Die Gesetzgebung auf nationaler Ebene betrifft einzelne Gemeinden häufig nicht so direkt wie auf kantonaler Ebene. Man darf nicht vergessen, dass die Mitglieder des National- und Ständerats immer verschiedene Hüte anhaben: Sie vertreten nicht nur eine Gemeinde, sondern auch ihren Kanton und ihre Region, sind in Verbänden eingebunden und haben Parteiinteressen – gerade der Fraktionszwang ist heute stark. Da ist der Hut des Gemeinderates nicht immer der grösste.

Könnte man also sagen, dass sich die Ratsmitglieder mit kommunaler Erfahrung bei der Ausgestaltung von Gesetzen für die Institution Gemeinde einsetzen, aber weniger für inhaltliche Anliegen?

Ja. Für das Funktionieren unseres politischen Systems ist es zentral, dass kommunale Erfahrung auf der Bundesebene einfliesst – und auch umgekehrt. Dies stärkt die Durchlässigkeit zwischen den verschiedenen Staatsebenen und sorgt für eine hohe Legitimation der Entscheide.

«Wer bereits auf kommunaler Ebene politisch aktiv war, kann beim Entwurf neuer Gesetze besser einschätzen, inwiefern diese in den Gemeinden umsetzbar sind.»

Prof. Dr. Adrian Vatter, Universität Bern

Unsere Auswertung hat gezeigt, dass Politikerinnen und Politiker aus der Romandie und dem Tessin häufiger kommunale Erfahrung haben als solche aus der Deutschschweiz. Wie erklären Sie sich das?

Ich sehe hier zwei Erklärungsansätze. Einerseits gibt es in der Westschweiz viel mehr Gemeindeparlamente als in der Deutschschweiz. Einige Kantone kennen sogar einen Parlamentszwang für die Gemeinden. Das führt automatisch dazu, dass mehr Personen in der Kommunalpolitik tätig sind. Andererseits scheint es in der Deutschschweiz mehr politische Quereinsteiger zu geben, während in der lateinischen Schweiz viele Politikerinnen und Politiker den klassischen Gang durch die Institutionen antreten. Das ist aber eine Hypothese, die noch genauer untersucht werden müsste.

Wie wichtig ist die «Ochsentour», also der Gang durch die Institutionen, für eine heutige Politikerkarriere?

Die Auswertung des Schweizerischen Gemeindeverbands zeigt, dass diese nach wie vor sehr wichtig ist. Gleichzeitig gibt es auch immer mehr gerade jüngere Ratsmitglieder mit einer höheren Ausbildung, die Politik auf einer sehr professionellen Ebene betreiben. Sie steigen häufig direkt auf Bundesebene ein und gehören eher den rot-grünen Parteien an. Angehörige von bürgerlich-konservativen Parteien hingegen durchlaufen öfters die «Ochsentour».

Wäre es problematisch, wenn die «Ochsentour» an Bedeutung verlieren würde?

Zentral ist eine gute Mischung im Parlament: also Personen, die den Gang durch die verschiedenen Staatsebenen durchlaufen haben, aber auch Quereinsteiger. Erstere bringen viel praktische Erfahrung aus den verschiedenen Staatsebenen mit, Letztere können komplexes Fachwissen aus unterschiedlichen Fachbereichen einbringen, zum Beispiel im Steuerrecht oder bei Sozialversicherungen.

Ist die Schweiz international ein Sonderfall mit Bundesparlamentarierinnen und Bundesparlamentariern, die zugleich noch in einer Gemeinde tätig sind?

Ganz klar, ja. In anderen nationalen Parlamenten sind die Abgeordneten in der Regel vollamtlich tätig und üben keine anderen Ämter aus. Das ist also eine Besonderheit unseres Milizsystems, und auch eine Stärke, denn so bleibt der direkte Kontakt zur Bevölkerung bestehen, und die lokale Erfahrung kann in die Bundespolitik einfliessen. Andererseits stellt sich die Frage, ob jemand, der im Nationalrat sitzt und einer Gemeinde vorsteht, noch Milizpolitiker ist. Heute sprechen wir von einem Halbberufsparlament. Denn viele Kapazitäten für eine berufliche Tätigkeit bleiben da nicht mehr.

Zur Person

Der Politikwissenschaftler Prof. Dr. Adrian Vatter hat den Lehrstuhl für Schweizer Politik an der Universität Bern inne. Er forscht schwerpunktmässig zu den politischen Institutionen der Schweiz und zu Föderalismusfragen. Zusammen mit Dr. Martina Flick Witzig hat er dieses Jahr das Buch «Direkte Demokratie in den Gemeinden» publiziert.

Nadja Sutter
Chefredaktorin «Schweizer Gemeinde»
Fabio Pacozzi
Leiter Kommunikation Schweizerischer Gemeindeverband