Tunnel verbinden Produktions- und Logistikstandorte mit städtischen Zentren.

«Die Last, die unsere Bevölkerung trägt, muss entschädigt werden»

22.11.2021
11 | 2021

Mit dem Ja der eidgenössischen Räte konkretisiert sich das gigantische Logistikprojekt «Cargo sous terrain». Die Gemeinden im Solothurner Gäu, wo die ersten Hubs entstehen sollen, bereiten sich gedanklich längst auf die Auswirkungen vor. Und stellen Forderungen.

Als Erstes, sagt Johanna Bartholdi, denke man bei so einem Projekt natürlich an Steuereinnahmen für die eigene Gemeinde. «Doch da erwarten wir nichts.» So realistisch schätzt die Gemeindepräsidentin von Egerkingen (SO) die Lage ein, und Realismus ist denn auch ein gutes Stichwort. Bei Bartholdi und ihren Amtskolleginnen und -kollegen in der Nachbarschaft dreht sich zurzeit vieles um ein Vorhaben, das alles Dagewesene in den Schatten stellt und das darum vielerorts als unrealistisch verschrien wird: Cargo sous terrain, kurz CST. «Für mich ist CST keine Vision, sondern ein realisierbares Projekt», sagt Bartholdi mit Nachdruck. Die Schweiz brauche eine dritte Säule für den Warenverkehr, wo Schiene und Strasse nachweislich an ihre Kapazitätsgrenzen stiessen.

Im Herzen der Schweizer Logistikbranche

Egerkingen liegt im Gäu. Hier befindet sich das grösste Verteilzentrum der Schweizer Post, hier liegt das Zentrum der Schweizer Logistikbranche. Das Gäu, sagt man, sei die Lagerhalle der Nation. Weil sich im Gäu die zwei meistbefahrenen Strassen des Landes kreuzen. Und sich der Eisenbahnknotenpunkt Olten auch nur einen Steinwurf entfernt befindet. Es ist naheliegend, soll just hier, in diesem logistischen Schmelztiegel, Cargo sous terrain seinen Anfang nehmen. Und sein Ende.

Von Zürich aus soll das digitale Logistiksystem in einer ersten Phase unterirdisch ins Gäu führen, mehrere Hubs sind geplant, Be- und Entladestationen mit guter Anbindung an Strasse und Schiene. Egerkingen, Härkingen, Neuendorf, Niederbipp, sie alle werden mit CST noch mehr zum Drehkreuz der Schweizer Logistik. Und das wirft Fragen auf. Fragen nach dem grossen Ganzen, nach Machbarkeit, Finanzierung, dem Potenzial. Für Bartholdi sind diese zwar nicht restlos, aber doch zu einem guten Teil beantwortet. Schliesslich gäbe es keine Alternative, als in den Boden zu gehen, sagt sie. «Wir werden unsere Pakete künftig ja wohl kaum mit Drohnen durch die Lüfte fliegen.»

 Baustellen, Mehrverkehr, Untergrund

Also sind es die Fragen nach den Feinheiten, die sie beschäftigen, jene Detailfragen, die sämtliche Gemeinden im Gäu umtreiben. Etwa jene nach den riesigen Baustellen, dem Mehrverkehr, den der Bau brächte, danach, ob Enteignungen drohten oder Probleme mit dem Grundwasser. Ob Steuereinnahmen stiegen, Arbeitsplätze entstünden, kluge Köpfe angezogen würden. Könnte das Gäu nicht nur als Versorgungs-Valley des Landes dienen, wie Oensingens Gemeindepräsident Fabian Gloor sagt, sondern auch zu einem Hightechzentrum werden, einem Silicon Mittelland quasi? Viele Fragen. Bartholdi versteht den Enteignungspassus im CST-Gesetz vor allem als Instrument, um Einsprachen zu verhindern: «Es liegen 70 Kilometer zwischen Zürich und uns. Wenn da jeder Eigentümer entlang der Strecke Einsprache erheben würde, wäre das Projekt tatsächlich unrealistisch», sagt sie und hofft, dass einvernehmliche Lösungen gefunden werden können. Viel eher bereite ihr das Grundwasservorkommen Sorge. Unter dem Gäu erstreckt sich ein riesiger Grundwassersee. Das könnte die Linienführung der Transporttunnel erschweren. Andererseits sei das Tunnelsystem aufgrund seiner geringen Grösse baulich sehr flexibel. Beantwortet ist die Grundwasserfrage allerdings nicht – genauso wenig wie jene nach weiteren rechtlichen Konflikten etwa mit Erdwärmesonden. Allein in Zürich, wo ebenfalls mehrere Hubs entstehen sollen, existieren mehrere Tausend Erdwärmesonden, die das Potenzial haben, der unterirdischen Rohrpost in die Quere zu kommen. Ausserdem verlaufen die Bohrungen oft nicht senkrecht in den Untergrund, sondern mitunter in einem Winkel unters Nachbargrundstück.

Niemand setzt sich gern in eine Beiz, in der sich sonst keiner aufhält.

Johanna Bartholdi, Gemeindepräsidentin von Egerkingen (SO)

Forderung nach einer Abgeltung

Nun könnte man sagen, «dass die das doch woanders machen sollen», wie Bartholdi meint. «Aber wir sind uns bewusst, dass wir prädestiniert sind für dieses Projekt.» Sie komme aus dem Gastgewerbe, und dort wisse man: «Niemand setzt sich gern in eine Beiz, in der sich sonst keiner aufhält.» Wenn das Gäu nun diese Beiz ist, dann sitzt an jedem Tisch mindestens ein Logistiker. Natürlich ergebe es Sinn, sich als CST ins Gäu zu setzen. «Und wenn wir davon sprechen, Ressourcen zu schonen, dann ergibt es noch mehr Sinn, das hier bei uns zu machen», sagt sie.

Wissen, dass man prädestiniert ist, ist das eine. Wissen um die eigene Bedeutung das andere. Und das wissen Bartholdi und ihre Amtskolleginnen und -kollegen. Diese Bedeutung, ist die Egerkinger Gemeindepräsidentin überzeugt, birgt eine gewisse Macht. Etwa dann, wenn es um Abgeltungen geht. «Wir stemmen hier eine nationale Aufgabe. Diese Last, die unsere Bevölkerung für die ganze Schweiz trägt, muss entschädigt werden.» Die Schweiz profitiert von einer Leistung, die das Gäu erbringt. Darum fordert die Gemeindepräsidentenkonferenz Gäu, kurz GPG, geschlossen eine Hubsteuer als Abgeltung für den Mehrverkehr, die Zersiedelung, kurzum: all die negativen Aspekte, die der Logistikstandort mit sich bringt.

Auch der Kanton Solothurn müsste seine Schlüsselrolle punkto Warenverkehr beim nationalen Finanzausgleich geltend machen. Dafür sei es wichtig, als Region Gäu, aber auch als Kanton geschlossen aufzutreten. Die Gemeindepräsidentenkonferenz Gäu, kurz GPG, spielt hier bereits eine wichtige Rolle. Sie ist die Plattform, auf der sich die Gemeindegremien treffen, absprechen, Strategien entwickeln und Rahmenbedingungen fordern. Die GPG ist auch das Sprachrohr nach aussen, das sich etwa am Mitwirkungsverfahren von Cargo sous terrain beteiligt. Etwa mit der Forderung nach Abgeltungen, Hubsteuern, wenn man so will. Wenn hier Johanna Bartholdi für Egerkingen spricht, dann stehen die Gemeindepräsidentinnen und -präsidenten etwa von Gunzgen, Hägendorf, Härkingen, Kestenholz, Neuendorf, Oberbuchsiten, Oensingen oder Wolfwil hinter ihren Worten.

 Im CST-Gesetz ist zu möglichen Abgeltungen zwar nichts vorgesehen. «Doch mit Nutzungsplänen und Sonderbauvorschriften können wir Einfluss nehmen.» Nicht so wie damals, als das einstige Warenhaus Waro aus Zürich nach Egerkingen expandierte und die Gemeinde das logistische Potenzial des Gäus unterschätzte – ganz im Gegensatz zu den Zürchern. «Dieses Mal haben wir unsere Anliegen platziert; unser Fuss ist in der Tür.»

Darüber hinaus erkennen Johanna Bartholdi und ihre Amtskolleginnen und -kollegen in CST durchaus Potenzial für ihre Gemeinden. Wenn schon keine Steuereinnahmen, dann sollte die direkte Anbindung an das wahrscheinlich modernste Transportsystem der Welt doch wenigstens eine Sogwirkung entfalten – auf Arbeitsplätze und die Ansiedlung vorausschauender Unternehmen.

Selbst engagiert hat sich Egerkingen für CST dennoch nicht – ganz im Gegensatz zu den Grossen des Landes, Migros, Coop, Mobiliar und Credit Suisse, Swisscom, Post und SBB. Auch in den beiden Parlamentskammern herrscht noch Uneinigkeit. Im Zentrum steht ebenfalls die Rechtslage hinsichtlich möglicher Enteignungen: Der Nationalrat fordert einen Sonderschutz für bundesnahe Betriebe – namentlich die SBB –, der Ständerat sieht die Bundesinteressen nicht in Gefahr. In der Wintersession der eidgenössischen Räte im Dezember sollen die Differenzen ausgeräumt werden. Das wäre dann das grüne Licht, dem man am CST-Sitz in Basel entgegenfiebert.

Gemeinden haben Bedenken

Cargo sous terrain ist ein privatwirtschaftlich initiiertes Projekt, das die wichtigen Logistikzentren der Schweiz ab 2031 unterirdisch verbinden soll (500 km). Ein Bundesgesetz für unterirdische Gütertransportanlagen wird den Rahmen für die Ausführung dieser Arbeiten, die mit privaten Mitteln finanziert werden, setzen. In diesem Stadium ist es schwierig, Aussagen über die konkreten Folgen, die das Projekt für die Gemeinden haben wird, zu machen. Eine vom Schweizerischen Gemeindeverband (SGV) im September durchgeführte Umfrage zeigte jedoch, dass etliche Gemeinden skeptisch sind und die Ansicht vertreten, die Problematik der Verkehrsüberlastung sei damit nicht für alle Gemeinden behoben. Die letzten Kilometer würden nach wie vor auf den klassischen Strassennetzen erfolgen, und die Verkehrsüberlastung nehme an den Ein- und Ausfahrtspunkten zu. Ohne massive Eingriffe wie Lastwagenfahrverbote bei der Feinverteilung sei dies nicht realistisch, da die Transportkette durch zusätzliche Umladevorgänge eher erschwert, verlangsamt und verteuert würde. Die grosse Mehrheit der befragten Gemeinden teilt zudem die Bedenken des SGV in Bezug auf potenzielle Nutzungskonflikte des Untergrunds, beispielsweise im Zusammenhang mit Energie (Erdwärme, Wärmepumpe usw.), Anlagen (Parkhäusern) oder Biodiversität. red