Die Akzeptanz in der Bevölkerung fehlt
In wenigen Wochen beginnt für die Schweizer Fahrenden die Reisezeit. Doch vielerorts mangelt es ihnen an Plätzen, auf denen sie einen temporären Halt einlegen können. Der Kanton St. Gallen hat keinen einzigen Durchgangsplatz, obwohl seit 16 Jahren ein entsprechendes Konzept vorliegt.
In der Gemeinde Bonaduz im Kanton Graubünden gibt es seit 15 Jahren einen Durchgangsplatz für Schweizer Fahrende. Dieser befindet sich etwas ausserhalb der knapp 2800-Seelen-Gemeinde, nahe der Autobahn. Die fahrenden Jenischen und Sinti legen hier gerne einen Zwischenhalt ein: Es gibt grosszügige Standplätze für die Wohnwagen, Strom, Wasser und sanitäre Anlagen. Zudem ist die Akzeptanz seitens der Gemeinde und der Bevölkerung vorhanden. «Wir hatten in all den Jahren nie Probleme mit dem Platz und den Fahrenden», sagt Gemeindepräsidentin Elita Florin-Caluori.
Ähnlich tönt es in Zillis-Reischen, knapp 20 Kilometer südlich von Bonaduz. Hier, am Ausgang der Viamala-Schlucht, führt die Radgenossenschaft der Landstrasse – die Dachorganisation der Schweizer Fahrenden – seit sechs Jahren den Campingplatz Rania. Er ist ein Stand- und Durchgangsplatz für Jenische und Sinti sowie ein Übernachtungsort für Tagestouristen. «Die Zusammenarbeit zwischen Gemeinde und Fahrenden klappt sehr gut», sagt Gemeindeschreiber Andi Danuser. Die anfängliche Skepsis seitens der Gemeinde sei nach den Gesprächen mit den Beteiligten schnell verflogen. «Beide Seiten haben ein grosses Interesse an einem guten Einvernehmen.»
Bis vor Bundesgericht
Bonaduz und Zillis-Reischen gehören zu den fünf Gemeinden in Graubünden, die Fahrenden einen Platz zur Verfügung stellen. Die beiden sind ein Musterbeispiel dafür, wie ein gutes Miteinander von Kanton, Gemeinden und Fahrenden funktionieren kann. Damit haben sie das geschafft, was in anderen Teilen der Schweiz, insbesondere in der Ostschweiz, grosse Mühe macht. Gemäss dem neuesten Bericht der Stiftung Zukunft für Schweizer Fahrende zählt beispielsweise der Kanton Thurgau aktuell drei, über den Sommer zugängliche Durchgangsplätze, die aber entweder provisorisch sind oder deren Infrastruktur eingeschränkt ist. Im Nachbarkanton St. Gallen gibt es vier Standplätze – sie dienen den Fahrenden als Winterquartier –, aber keine Durchgangsplätze. Der Kanton hat bereits vor 16 Jahren ein Konzept mit möglichen Durchgangsplätzen rund um die Zentren St. Gallen, Wil, Rapperswil, Sargans, St. Margrethen und Buchs erarbeitet. Bislang wurde kein einziger gebaut. In Thal und Gossau scheiterten 2014 bzw. 2016 entsprechende Vorlagen an der Urne.
Obwohl der Kanton daraufhin seine Strategie änderte und es mit provisorischen Testbetrieben versuchte, blieben die Gemeinden wenig offen. 2019 lehnte der Thaler Gemeinderat ein erneutes Gesuch ab, und in Vilters-Wangs fehlte es am Einvernehmen mit der Standortgemeinde. Gegen den Entscheid aus Thal wehrt sich die Radgenossenschaft der Landstrasse. Sie rekurrierte zunächst beim Kanton, dann beim Verwaltungsgericht. Beide Male blitzte sie ab. Doch sie kämpft weiter für einen provisorischen Durchgangsplatz in Thal – und zwar vor Bundesgericht. Noch ist kein Entscheid gefallen. «Wenn nötig, gehen wir bis vor internationale Gerichte», sagt Willi Wottreng, Geschäftsführer der Radgenossenschaft der Landstrasse. «Die Gemeinden sind den Grund- und Menschenrechten verpflichtet. Das heisst, auch einer anerkannten Minderheit wie den Jenischen und Sinti in der Schweiz müssen sie das Recht gewähren, ihre traditionelle Lebensweise fortzusetzen.»
Schweizweit fehlen etwa 40 Durchgangsplätze
Etwa 30 000 Jenische und Sinti leben zurzeit in der Schweiz. Zehn Prozent von ihnen pflegen ihren reisenden Lebensstil. Dafür benötigen sie temporäre Halteplätze in den Sommermonaten und Standplätze, die ihnen vor allem im Winter als fester Wohnsitz dienen. 2003 schützte das Bundesgericht in einem Urteil ihre traditionelle Lebensweise und ihr Recht auf angemessene Halteplätze, und manche Kantone führen die Plätze mittlerweile zumindest in ihren Richtplänen auf. Trotzdem hat sich die Situation der Fahrenden in der Schweiz in den vergangenen Jahren kaum verbessert. Vielerorts herrscht ein grosser Mangel an Stand- und Durchgangsplätzen, wie es im Bericht der Stiftung Zukunft für Schweizer Fahrende heisst. «Es sind vor allem die Kommunen, die sich sperren», sagt Wottreng, «und zwar immer auch in Vorwegnahme einer vermeintlichen Volksmeinung.» Der Mangel an Plätzen hat negative Auswirkungen auf die Kultur der Fahrenden: Er erschwert ihnen, ihre traditionelle Lebensweise auszuüben. Schweizweit fehlen etwa 30 Stand- und 40 Durchgangsplätze, mindestens 6 davon im Kanton St. Gallen.
Wie in anderen Teilen der Schweiz ist auch in St. Gallen der Kanton für die Planung und den Bau der Durchgangsplätze zuständig, betrieben werden sie von den Gemeinden. Bislang waren die kantonalen Behörden wenig erfolgreich. «Der Fokus wurde in den vergangenen Jahren wohl zu stark auf die planerischen, baulichen und betrieblichen Aspekte gerichtet und zu wenig darauf, hinreichend über die Situation dieser nationalen Minderheiten zu informieren», sagt Alex Biber, der im kantonalen Bau- und Umweltdepartement für die Fahrenden verantwortlich ist. Eine entsprechende Fachstelle einzurichten, wie es beispielsweise die Kantone Aargau oder Zürich kennen, hält er momentan aber nicht für nötig. «Wir können in unserem Amt die grundlegenden Themen der Durchgangsplätze gut selbst bearbeiten», sagt er. Zudem kümmere sich die Fachstelle im Aargau unter anderem um die Betreuung der Platzbetreiber und die Sanierung von bestehenden Plätzen. «Mangels fehlender Durchgangsplätze stellen sich diese Fragen bei uns derzeit nicht.»
Worten müssen Taten folgen
Aus Sicht des Kantons fehlt es der Politik, den Gemeinden und der Bevölkerung am Bewusstsein für die Situation der Schweizer Fahrenden. «Die Aufgabe, einen geeigneten Platz zu finden und zu realisieren, wäre aus raumplanerischer Sicht keine allzu schwierige Aufgabe», sagt Biber. Die St. Galler Regierung hat sich in ihrer Schwerpunktplanung 2021 bis 2031 unter anderem das Ziel gesetzt, die Chancengerechtigkeit sicherzustellen und dabei den interkulturellen Dialog zu fördern. Aktuell wird die Bildung einer Fachgruppe geprüft, deren Aufgabe es wäre, über die Situation dieser nationalen Minderheiten zu informieren.
Willi Wottreng würde es begrüssen, wenn der Kanton den Dialog mit den Gemeinden und der Bevölkerung intensiviert, bleibt aber skeptisch. «Wir machen seit über 40 Jahren nichts anderes als Kommunikation mit den Behörden. Passiert ist nicht viel», sagt er und fordert, dass den Worten jetzt endlich auch Taten folgen. Umso mehr freut ihn die langjährige Zusammenarbeit mit den Gemeinden Bonaduz und Zillis-Reischen. «Sie sind ein schönes Beispiel dafür, dass ein Zusammenleben zwischen Fahrenden und Dorfbevölkerung gut funktioniert.»
Der Spontanhalt
Gerade in Zeiten, in denen es an Durchgangsplätzen mangelt, sind Möglichkeiten des spontanen Halts für die Fahrenden enorm wichtig. Er ist Teil ihrer Kultur. Beim Spontanhalt lassen sich Gruppen von in- oder ausländischen fahrenden Jenischen, Sinti und Roma für eine Dauer von bis zu vier Wochen auf privatem Land – seltener auch auf öffentlichem Grund – nieder. Dazu holen sie sich die Einwilligung des Grundeigentümers. Oft handelt es sich dabei um Landwirte, die gegen Entgelt ein Stück Land zur Verfügung stellen. Aus raumplanungsrechtlicher Sicht ist ein Aufenthalt in der Landwirtschaftszone von weniger als vier Wochen und maximal zweimal im Jahr auf demselben Grundstück zulässig. Bei kleineren Gruppen mit rund zwölf oder weniger Wohnwagen ist eine Bewilligungs- und Meldepflicht aus rechtlicher Sicht kaum angebracht, bei grösseren Gruppen schon. Bei Spontanhalten auf öffentlichem Grund: Die öffentliche Hand ist in der Pflicht, hierfür Grundstücke zur Verfügung zu stellen.
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