Ein Bild aus der Publikation «Vokabular des Zwischenraums – Gestaltungsmöglichkeiten von Rückzug und Interaktion in dichten Wohngebieten» des Instituts für Architektur (IAR) und des Kompetenzzentrums Typologie & Planung in Architektur (CCTP) der Hochschule Luzern – Technik & Architektur.

«Dichte und Enge sind nicht das Gleiche»

17.09.2021
9 | 2021

Hat Corona der Idee des verdichteten Wohnens den Garaus gemacht? Nein, sagt Peter Schwehr, Experte für Stadtentwicklung und Leiter des Kompetenzzentrums Typologie & Planung in Architektur (CCTP) der Hochschule Luzern. Im Interview erklärt er, warum Verdichtung nach wie vor eine Chance ist.

Peter Schwehr, müssen wir unsere Städte für die Zukunft pandemietauglich gestalten?

Peter Schwehr: Nein, wir müssen sie bedürfnisgerecht gestalten, dann sind sie auch pandemietauglich. Ein Siedlungscoach hat das mit einem konkreten Beispiel gut zusammengefasst. Er sagte zur Situation im Lockdown: «Wo Kinderlärm vor der Krise schon gestört hat, sind Konflikte im Zusammenleben eskaliert.»

Was ist ein Siedlungscoach?

Schwehr: Ein Siedlungscoach koordiniert das soziale und kulturelle Leben in einer Siedlung. Vor allem Genossenschaften haben diese Stelle geschaffen, aus der Einsicht heraus, dass das Soziale der entscheidende Mehrwert einer Siedlung ist. Oft fokussiert man sich ja auf das Bauliche, wenn man an Siedlungen denkt; der soziale Aspekt des Zusammenlebens wird vernachlässigt. Dadurch entstehen aber seelelose Quartiere und keine qualitativ hochwertig verdichteten Gebiete. Und damit wären wir wieder bei Corona: Die Pandemie hat uns gezeigt, wie wichtig eine gute Nachbarschaft ist.

Dennoch haben Medien zufolge grössere Wohnungen und solche auf dem Land Hochkonjunktur. Ist das nicht ein Indiz dafür, dass die Verdichtung der Städte nicht mehr attraktiv ist?

Schwehr: Ich halte den Rückzug ins Eigenheim auf dem Land für einen kurzfristigen Trend und nicht für ein Indiz. Das ursprüngliche Problem bleibt ja: Wir müssen haushälterisch mit dem Boden umgehen. Daran hat Corona nichts geändert. Die Pandemie macht einfach noch deutlicher sichtbar, dass Dichte und Enge nicht das gleiche sind.

Können Sie diesen Unterschied erläutern?

Schwehr: Eng wird es da, wo auf wenig Platz viele Wohnungen untergebracht sind, ohne dass der Raum zwischen den Wohnungen und Häusern und das soziale Zusammenleben in die Planung einbezogen wurde. Eine qualitätsvolle Verdichtung hingegen bedeutet, dass diese Nähe mit einem durchdachten Konzept für den gemeinsam genützten Raum gestaltet wurde, dass Begegnung und Austausch, aber auch Rückzug möglich ist. So gesehen ist Corona eine Chance: Die jetzige Situation drängt uns, qualitätsvolle Verdichtung weiterzuentwickeln, damit sie zum Mehrwert für das Quartier wird.

Sie haben ThinkTanks mit internationalen Expertinnen und Experten durchgeführt, um aus der Coronakrise Lehren für das verdichtete Wohnen zu ziehen. Was waren die wichtigsten Resultate?

Schwehr: Zunächst einmal: Es ging in diesen Workshops nicht darum, wie wir unsere Städte auf die aktuelle Situation ausrichten können, sondern darum, wie uns die jetzige Extremsituation näher an allgemeine Fragen heranführen kann: Was macht macht Siedlungen verletzlich? Was macht sie handlungsfähig? Was macht sie resilient? Was durch den Lockdown ganz deutlich geworden ist: Die einzelne Wohnung muss entlastet werden. Dafür braucht es räumliche Ergänzungsmöglichkeiten in der Siedlung und im Quartier, damit nicht das Gefühl von Stress entsteht, sondern von Mehrwert.

Wie kann diese Entlastung aussehen?

Schwehr: Einerseits müssen wir dafür Synergien nutzen, andererseits braucht es hybride, multifunktionale Strukturen. Synergien nutzen bedeutet: Geteilte Räume für einen bestimmten Zweck zur Verfügung stellen, die dann auch besser ausgerüstet sind, als man dies im Normalfall in der eigenen Wohnung leisten kann. Zum Beispiel ein Raum, der als Büro genützt werden kann – wenn die Kosten geteilt werden, kann man sich auch einen guten Drucker leisten, anstatt dass jede und jeder ein Büro in der eigenen Wohnung einrichtet. Oder ein Näh- und Bügelzimmer. So braucht man nicht die eigene Wohnung vollzustellen und teilt erst noch eine ausgezeichnete Nähmaschine. Es braucht auch nicht jede Wohnung ein Gästezimmer, das nur drei Wochen im Jahr genutzt wird.

Solche Gemeinschaftsräume funktionieren allerdings nur, wenn sie gut organisiert sind, sei dies, durch einen Siedlungscoach oder mit einem klaren Konzept selbstverwaltet. Sonst entsteht zu viel Reibungsfläche. Zusätzlich braucht es aber auch Aussenräume rund um das Haus, die sich die Bewohnerinnen und Bewohner als Begegnungsorte für einen formellen und informellen Austausch aneignen können.

«Es braucht nicht jede Wohnung ein Gästezimmer, das nur drei Wochen im Jahr genutzt wird.»

Peter Schwehr, Experte für Stadtentwicklung und Leiter des Kompetenzzentrums Typologie & Planung in Architektur (CCTP) der Hochschule Luzern

Und was hat es mit den hybriden, multifunktionalen Strukturen auf sich?

Schwehr: Homeoffice und Homeschooling sind Extremstresstests für unsere Wohnungen. Während der wärmeren Jahreszeit nutzten die Leute den Aussenraum. Der Winter zeigt uns jetzt, dass es für Gebäude und Quartiere auch Innenräume braucht, die gemeinsam genützt werden können und so den Druck von den Wohnungen wegnehmen. Wir reden hier von Räumen, die je nach Bedarf mit wenig Aufwand umgestaltet werden können, beispielsweise ein Gemeinschaftsraum, der zu einem provisorischen kleinen Lernraum für die Kinder umfunktioniert wird. Solche Räume müssen nicht perfekt eingerichtet sein. Wichtig ist, dass sie einfach umgestaltet werden können.

Das bedeutet also, nicht alles für die Ewigkeit festzulegen?

Schwehr: Genau. Das ist ein weiterer wichtiger Punkt: Es braucht fehlertolerante Strukturen. Wenn wir bauen, dann denken wir ja meist in einem Zeitrahmen von mindestens einem Jahrhundert. Es ist wichtig, dass man bei der Planung von Quartieren in grösseren Zusammenhängen denkt und soziale Bewegungen wie Migration oder Entwicklungen wie die Digitalisierung berücksichtigt. Dennoch wissen wir nicht, was in fünfzig Jahren gebraucht wird. Hier sind Gebäude sinnvoll, die man ohne grossen Aufwand umbauen oder sogar wieder rückbauen und das Material wiederverwenden kann. Das braucht aber Mut zum Unfertigen. Wie müssen keinen perfekten Raum schaffen, denn Perfektion ist ein Endzustand – eine Stadt hingegen entwickelt sich immer weiter.

Erfolgreiche Lösungen für die Gestaltung von verdichtetem Wohnraum

Das Kompetenzzentrum für Typologie & Planung in Architektur (CCTP) beschäftigt sich intensiv damit, wie das Zusammenleben auf knappem Raum gestaltet werden kann. Die Publikation «Vokabular des Zwischenraums – Gestaltungsmöglichkeiten von Rückzug und Interaktion in dichten Wohngebieten» des Instituts für Architektur (IAR) und des Kompetenzzentrums Typologie & Planung in Architektur (CCTP) der Hochschule Luzern – Technik & Architektur ist bei Park Books erschienen und fasst die Ergebnisse aus dem vorangegangenen Forschungsprojekt «Interface Fassadenraum – Gestaltung von Privatheit und Öffentlichkeit in dichten Wohngebieten» zusammen. Das von Elke Schulz gestaltete Buch wurde vom Deutschen Architekturmuseum an der Frankfurter Buchmesse zu einem der zehn besten Bücher im Bereich Architektur gekürt.

Senta van de Weetering
Projektleiterin Unternehmenskommunikation
Hochschule Luzern

Informationen:

www.hslu.ch

Wie wirkt sich Corona auf die Stadt- und Ortsentwicklung aus?

Dieser und weiteren Fragen ging der Verband für Raumplanung, EspaceSuisse, mit verschiedenen Expertinnen und Experten nach. Das Resultat dieser Diskussionen ist der im April erschienene Kurzbericht «Post Corona». Er behandelt die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie in den acht Themenfeldern Detailhandel/Ortskerne, Gastronomie, Arbeiten, Wohnen, Immobilienmarkt, Gemeinden/Städte, Mobilität und bündelt die wichtigsten Erkenntnisse in zwölf Hauptaussagen:

1. Die COVID-19-Pandemie wird dauerhafte Veränderungen unseres Lebensmodells nach sich ziehen.

2. Das dezentrale Büro wird auch nach Abklingen der Krise verbreitet bleiben und unser Arbeitsmodell langfristig verändern. Diese weniger ortsgebundene Arbeitsweise wird in den nächsten Jahren für diverse Innovationen und Verschiebungen sorgen: Co-Working, räumlich ausgelagerte Firmenbüros oder multilokale Arbeitsmodelle. Daraus resultieren wiederum neue Raumbedürfnisse. Regionalzentren spielen dabei aufgrund ihres Serviceangebotes (Kinderbetreuung, Einkauf, Freizeitangebote etc.) eine wichtige Rolle.

3. Der persönliche Platzbedarf steigt. Das Bedürfnis, zuhause Platz zum Arbeiten zu haben, ist nur eine Folge dieser Verschiebung. Aber sie sorgt für eine höhere Nachfrage nach Wohnfläche und führt teilweise zu einer Migration in günstigere, peripherere Regionen.

4. Die Mobilität verändert sich räumlich und zeitlich. Das dezentrale Arbeiten wird dazu führen, dass sich der Pendlerverkehr in die grossen Zentren reduziert. Arbeitswege werden seltener unternommen. Strecken- und Generalabonnements werden für viele unrentabel. Als Basis für die Mobilität greift man wieder mehr aufs Auto zurück.

5. In den grösseren Städten ist die Lust auf grüne Aussenräume und beruhigte Strassen stark gewachsen. Man hat die entspannte Situation im (Teil-)Lockdown als wichtige Erfahrung in Erinnerung. Es wird zu einer Offensive zugunsten lokaler Lebensqualität in Städten kommen.

6. Die Bedeutung der Orts- und Stadtzentren als unsere Identifikationsorte ist bestätigt. Es wird keine generelle Stadtflucht geben, auch wenn Bewegungen in Vorstädte und ländliche Gegenden sichtbar sind. Man hat im Gegenteil den Wert der Begegnung neu erfahren und möchte die Orts- und Stadtzentren als Identifikationsorte erhalten. Dafür werden auch neue Mittel und Wege gesucht.

7. Der Onlinehandel etabliert sich. Die Verschiebung des Detailhandels ins Internet ist massiv und nur teilweise reversibel. Viele Geschäfte werden schliessen. Halten können sich nur gute Einkaufslagen in den grösseren Städten oder attraktive Cluster von Anbietern in Quartier- und Regionalzentren. Dort spielt die Kombination von Aussenraumqualität, Detailhandel und Gastronomie eine zentrale Rolle.

8. Die Gastronomie bleibt wichtige Stütze der Begegnungsfunktion im Ortskern. Die Branche ist traditionell labil – Betriebe kommen und gehen. Die Branche ist mehr denn je gezwungen, sich neu zu erfinden. Dies hat sie teilweise getan (Take-away, Lieferdienste etc.). Temporär gewährte Freiheiten im Aussenraum können zu neuen Impulsen für die Ortskerne führen.

9. Die Nutzung der Erdgeschosse wird sich diversifizieren. Beim Erhalt der Ortskerne als Einkaufs- und Begegnungsorte spielen die Hauseigentümer eine immer wichtigere Rolle. Sie müssen Teil des Diversifizierungsprozesses werden, um die Erdgeschosse wirtschaftlich breiter abzustützen. Dabei ist die momentane Rendite des Erdgeschosses einer langfristigen und umfassenderen Sicht auf alle Etagen gegenüberzustellen.

10. Die kurzen Wege werden zu einem Qualitätsfaktor. Während der Corona-Krise hat die Bevölkerung die räumliche Nähe von Wohnen, Arbeiten, Versorgung, Gastronomie und Begegnung schätzen gelernt. Das «24-Stunden-Quartier» ist ein urbanes Modell, das sich auch in ländlichen Ortskernen etablieren wird. Darin sind auch neue Modelle für die ältere Bevölkerung möglich. Diese möchte sich aufgrund der Corona-Krise noch stärker auf die eigenen Wohnstrukturen denn auf Heime abstützen.

11. Der Tourismus wandelt sich. Nach der Corona-Krise wird der Tourismus stärker auf Regionalität, Authentizität und Individualität setzen. Dies wird Strukturen nach sich ziehen, die kleinteiliger und ländlicher sind. Gleichzeitig wächst der Druck auf Wald und Landschaft.

12. Die öffentliche Hand ist gestärkt. Ihre Rolle als lenkende Kraft ist in der Krise gewachsen. Man gesteht ihr vermehrt die Rolle als Entwicklerin und Verwalterin gemeinsamer Werte zu. Dabei spielen flexible Planungsverfahren eine zunehmende Rolle, um auf Brüche wie Corona reagieren zu können. Gemeinden werden vermehrt strategische Liegenschaften im Ortskern kaufen und diese als Begegnungsorte (Kultur, Generationenwohnen) erhalten. Dieses Engagement wird auch für die Gastronomie und – je nach Ort – für touristische Angebote wichtig sein.