Die Karte zeigt die Gefährdung durch Oberflächenabfluss im Gemeindegebiet von Meiringen (BE).

Der Oberflächenabfluss fordert die Gemeinden

13.10.2024
10 | 2024

Häufigere und intensivere Starkniederschläge und eine markante Zunahme des Siedlungsgebiets: Diese Kombination hat dazu geführt, dass sich der Oberflächenabfluss in den letzten Jahren zu einer ernst zu nehmenden Naturgefahr entwickelt hat. Zwei digitale Werkzeuge unterstützen die Gemeinden beim Umgang mit den vielschichtigen Herausforderungen durch den Oberflächenabfluss, wie das Beispiel von Meiringen (BE) zeigt.

Oberflächenabfluss entsteht, wenn der Untergrund den Regen nicht mehr zu schlucken vermag. Er ist in der Schweiz aus Gefahrensicht hochrelevant: 62 Prozent aller Gebäude sind durch ihn grundsätzlich betroffen. Über die Hälfte aller Schaden bringenden Überschwemmungen sind auf den Oberflächenabfluss zurückzuführen. Vor diesem Hintergrund entwickelte das Mobiliar Lab für Naturrisiken an der Universität Bern ein digitales Werkzeug zur vertieften Auseinandersetzung mit diesem Phänomen.

Besuch in Meiringen

Die Autoren fuhren nach Meiringen im Berner Oberland, einer naturgefahrenerprobten Gemeinde, um mehr über die kommunalen Herausforderungen durch den Oberflächenabfluss zu erfahren. Die Absicht war, im Gespräch – ausgehend von der allgemeinen Naturgefahrensituation – allmählich zum Oberflächenabfluss vorzustossen. Gleichzeitig galt es, abzuklären, ob und wie die beiden in letzter Zeit entwickelten Werkzeuge zum Oberflächenabfluss (siehe Box) eine Gemeinde unterstützen. Der Oberflächenabfluss stand aber sofort im Mittelpunkt des Gesprächs mit dem Gemeindepräsidenten Daniel Studer, dem Gemeinderat Beat Kohler und dem Abteilungsleiter Infrastruktur Thomas Fuchs. Und dies auf eine überraschende Art und Weise: Zunehmende Oberflächenabflüsse seien für die Problematik der ansteigenden Grundwasserstände in der Talebene verantwortlich, hiess es vonseiten der Gemeinde.

Vor einigen Jahren stellte man ausserdem fest, dass der Oberflächenabfluss aus den an die Siedlung angrenzenden Hängen massgeblich zum ARA-Zufluss beiträgt, was zu erheblichen Mehrkosten führte. Zur Verbesserung wurden Massnahmen im Rahmen der Generellen Entwässerungsplanung (GEP) umgesetzt, mehrere Versickerungsbecken geschaffen und Oberflächen entsiegelt, sodass Meiringen nun bereits über eine Basisinfrastruktur zum Schutz vor Oberflächenabfluss verfügt.

Oberflächenabfluss analysieren

Die Gefährdungskarte Oberflächenabfluss (siehe Abbildung) und das Werkzeug «Schadenpotenzial Oberflächenabfluss» der Universität Bern sind gesamtschweizerisch verfügbar beziehungsweise einsetzbar. Wie kann Meiringen nun von diesen Instrumenten profitieren?

Aus dem Gespräch ergaben sich vier wesentliche Aspekte. Erstens inspirieren die Werkzeuge ganz allgemein zu einer vertieften Auseinandersetzung mit dem Oberflächenabfluss. Zweitens ergänzt die Gefährdungskarte Oberflächenabfluss die Beurteilung der Gemeindeverantwortlichen mit einer zweiten Sicht und reichert das lokale Wissen mit zusätzlichen Informationen an (zum Beispiel Fliesstiefen).

Drittens gibt das Werkzeug «Schadenpotenzial Oberflächenabfluss» dieser Gefahr bei der Siedlungsplanung eine Stimme. In Meiringen sind 51 Prozent der freien Bauzonenflächen durch Oberflächenabfluss gefährdet, was im Sinne der Gefahrenprävention bei der Überbauungsplanung unbedingt mitzuberücksichtigen ist.

Viertens unterstützen Karte und Werkzeug die Verantwortlichen bei der Sensibilisierung für den Oberflächenabfluss und liefern Argumente, bei Baugesuchen wo nötig Objektschutzmassnahmen zu fordern.

Das Werkzeug «Schadenpotenzial Oberflächenabfluss»

Das Werkzeug des Mobiliar Labs zeigt für jede Gemeinde das Schadenpotenzial auf, das sich aus der Gefährdung von Gebäuden und von Bauzonenreserven ergibt. Es geht von der Gefährdungskarte Oberflächenabfluss des Bundesamts für Umwelt aus. Diese Karte stellt die potenziellen Überschwemmungsgebiete durch Oberflächenabfluss inklusive der Fliesstiefen dar. Weiterführende Informationen siehe www.oberflaechenabfluss.hochwasserrisiko.ch.

Bestehende Gefahrenkarten erweitern

Im Vergleich zur Hochwassergefahr fehlt beim Oberflächenabfluss (noch) ein entsprechendes verbindliches raumplanerisches Instrument. Bemerkenswert ist dabei, dass sich die räumlichen Gefahrenbereiche der beiden Prozesse oftmals überlagern. So sind in Meiringen 38 Prozent der Gebäude in der gelben Gefahrenzone auch vom Oberflächenabfluss betroffen. Müsste man nicht gerade auf diese Gebiete ein spezielles Augenmerk legen und dort Objektschutzmassnahmen besonders fördern und fordern?

Ganzheitliche Sicht

Das Gespräch zum Oberflächenabfluss weitete sich zu einer gesamtheitlichen Sicht aller Naturgefahren aus, die gerade mit den infolge der Klimaerwärmung immer grösser werdenden Niederschlagsintensitäten dringend notwendig ist. Für Daniel Studer und seine Kollegen ist deshalb klar: Die integrale Risikobetrachtung bleibt eine Daueraufgabe. Die Gefährdungskarte Oberflächenabfluss, das Werkzeug «Schadenpotenzial Oberflächenabfluss» und weitere am Mobiliar Lab entwickelte Tools unterstützen die Gemeinden dabei.

Rouven Sturny
Mobiliar Lab für Naturrisiken, Universität Bern
Rolf Weingartner
Mobiliar Lab für Naturrisiken, Universität Bern