Der Föderalismus braucht handlungsfähige Gemeinden
Die Coronakrise hat den Föderalismus auf die Probe gestellt, der Ruf nach Zentralisierung wurde laut. Die dezentralen Strukturen haben sich jedoch als innovativ und tragfähig erwiesen. Ein Plädoyer für handlungsfähige Gemeinden.
Seit Langem ist in der Schweiz nicht mehr so intensiv über Föderalismus diskutiert worden wie in den Monaten der Coronakrise, seit Langem stand der Föderalismus nicht mehr derart im Kreuzfeuer der Kritik. Von Kantönligeist war die Rede und einem Flickenteppich von Massnahmen, der die Bewältigung der Krise behindere. Christian Rathgeb, Präsident der Konferenz der Kantonsregierungen (KdK), stellte an der jüngsten Föderalismuskonferenz von Ende Mai in Basel fest, dass plötzlich alles «durch eine Art Zentralisierungsbrille wahrgenommen» werde. «Positiv erscheint mit diesem Filter nur noch, was zentral geregelt ist.» Nun gehören zum Föderalismus mit seinem Prinzip des Zentralstaats und den Gliedstaaten bereits dezentrale und zentralistische Elemente, wie Rathgeb in Basel in Erinnerung rief. «Wenn eine Krise erfordert, dass stärker zentralistisch geführt wird, ist das genauso ein Aspekt des Föderalismus und Teil des verfassungsmässigen Subsidiaritätsprinzips. Mit dem Epidemiengesetz hat die Schweiz eine solche Situation antizipiert.»
Kein Grund für Fundamentalkritik
Niemand bestreitet, dass Verbesserungen in der Krisenbewältigung, notabene in der Koordination und der Kommunikation, möglich und nötig sind. Die Analyse dazu – auch unter Mitwirkung der Gemeinden - ist im Gange. Was jetzt schon gesagt werden kann: Wer die «Zentralisierungsbrille» ablegt, macht den Blick auf die Vorteile des Föderalismus auch und vielleicht sogar vor allem in der Krise frei. Viele Kantone hätten innovativ und rasch gehandelt, betonte Rathgeb und nannte als Beispiele Zug mit seinem Ampelsystem zur tagesaktuellen Messung der Infektionen, Graubünden mit einem Testregime, das später der nationalen Teststrategie als Vorbild diente, Basel und Zürich mit ihrem Modell für die Abfederung von Geschäftsmieten, das Tessin mit der frühen Anordnung von Betriebsschliessungen, das Wallis mit der frühen Rückkehr zur Schliessung von Restaurants. Das Fazit: «Gliedstaaten haben entschlossen auf spezifische Situationen reagiert».
Bedürfnisgerechte Lösungen
Bedürfnisgerechte Lösungen auf allen drei Ebenen des Staates: Was für die Kantone gilt, gilt für die Gemeinden erst recht. Jörg Kündig, Vizepräsident des Schweizerischen Gemeindeverbands (SGV) und Präsident des Verbands der Zürcher Gemeindepräsidien, sagt stellvertretend für andere: «Während Bund und Kantone mit Gesetz und Verordnungen regeln, sind die Gemeinden sehr unmittelbar und in der Verantwortung mit der Umsetzung der konkreten Massnahmen befasst». Praktisch bedeutete das in der Krise, dass die Gemeinden im direkten Austausch mit der Bevölkerung zusätzlich zu ihren Grundaufgaben für umfangreiche Unterstützung sorgten: Auskunftsbereitschaft für besorgte Einwohnerinnen und Einwohner, situationsgerechte stationäre und ambulante Pflegeversorgung durch Spitex, Alters- und Pflegeeinrichtungen, Koordination der Einsätze der Freiwilligen, Aufgebot der Sicherheitskräfte und des Zivilschutzes, ein funktionierender Schulbetrieb sowie Kitas, welche den Eltern den nötigen Freiraum verschafften. Vorgaben, national und kantonal, insbesondere bei Abstandsregeln und Schutzmassnahmen, wurden zeitgerecht umgesetzt und sichergestellt.
Vom Vollzugs- in den Innovationsmodus
Da das Prinzip des gemeinsamen Wegs aller drei Staatsebenen in der Krise und unter Zeitdruck nicht immer eingehalten werden könne, weist Kündig auf ein weiteres entscheidendes Element des Föderalismus hin: Autonomie und Kompetenz, also Handlungsspielraum für die Gemeinden. Seinem eigenen Kanton windet er dabei ein Kränzchen. So hat die Zürcher Regierung im Frühjahr 2020 die Gemeindevorstände ermächtigt, Mittel zur Abfederung der wirtschaftlichen Folgen von Covid zu beschliessen, und sie hat rasch die Möglichkeit zum Verzicht auf Gemeindeversammlungen und die Einführung von Urnenabstimmungen geschaffen. Umgekehrt brauche es in den Gemeinden Mut, diese Handlungsfreiheit auch tatsächlich zu nutzen. Denn es dürfe nicht vergessen werden, dass beispielsweise neben der Umsetzung von organisatorischen Massnahmen nicht nur Bund und Kantone, sondern auch die Gemeinden für Unterstützungsleistungen tief in die eigene Tasche gegriffen haben. Kündig sagt: «Von einem Tag auf den anderen musste vom Vollzugs- in den Krisen- und Innovationsmodus gewechselt werden, ungewohnt mutige finanzielle Entscheide über grössere Investitionen wurden gefällt». Entscheide, für die die Gemeindebehörden gelobt oder vielleicht kritisiert werden. «Im Nachhinein werden viele wissen, wie besser hätte entschieden werden können.»
Im Korsett der Regeln
Etwas bitter stimmt vor diesem Hintergrund eine erste Erkenntnis aus der Aufarbeitung der Coronakrise: Die Leistungen der Gemeinden erhielten in der öffentlichen Wahrnehmung wenig Aufmerksamkeit. Und noch schwerer verdaulich wird so die «tendenziell steigende Regelungsdichte auf Bundesebene», wie sie Claudia Hametner, stellvertretende Direktorin und Leiterin Politik des Schweizerischen Gemeindeverbands (SGV), beobachtet. «Bundesvorlagen wie die Pflegereform von 2011, Stichwort Pflegefinanzierung, oder auch die behördenverbindlichen Vorgaben in der Raumplanung, etwa beim Landschaftskonzept Schweiz, führen dazu, dass der Gestaltungsspielraum der Gemeinden zunehmend eingeschränkt wird.» Die Gemeinden seien bei der Pflegefinanzierung zum Hauptfinanzierer geworden. «Weil die Beiträge der Krankenversicherer und der Versicherten plafoniert sind, gehen die Kostensteigerungen praktisch ausnahmslos zulasten der öffentlichen Hand. Hinzu kommen weitere Kostentreiber wie die Ergänzungsleistungen und die Sozialhilfeausgaben. Diese werden von den übergeordneten Instanzen geregelt und sind von den Gemeinden kaum beeinflussbar.»
Der Autonomieverlust der Gemeinden wird regelmässig durch die Befragung der Gemeindeschreiberinnen und -schreiber bestätigt(vgl. Schweizer Gemeinde vom Februar 2021). Über 70 Prozent der Schreiberinnen und Schreiber der Ansicht, dass die Autonomie ihrer Gemeinde in den letzten zehn Jahren abgenommen hat. 2005 waren es noch 60 Prozent.
Ideen gegen den Autonomieverlust
Angesichts solcher Entwicklungen verwundern Forderungen nach mehr Mitsprache für die Gemeinden nicht. Schon im Herbst 2017 verlangte der SGV die Einführung eines Gemeindereferendums auf Bundesebene. Konkret: 200 Gemeinden aus mindestens 15 Kantonen sollen das Referendum gegen Erlasse des eidgenössischen Parlaments ergreifen können. Eine Referendumsmöglichkeit auf Bundesebene besteht heute bereits für die Kantone; acht von 26 Ständen braucht es dafür. Hintergrund der SGV-Forderung war bereits damals die Feststellung, dass die Gemeinden trotz dem 1999 in die revidierte Bundesverfassung aufgenommenen Gemeindeartikel (Art. 50) ihren Autonomiegrad nicht steigern konnten. Dabei erwähnt der Gemeindeartikel in der Bundesverfassung die dritte Staatsebene explizit und verlangt, dass der Bund bei seinem Handeln die möglichen Auswirkungen auf die Gemeinden beachtet. Der Nationalrat lehnte die von Stefan Müller-Altermatt (NR CVP/SO) eingereichte parlamentarische Initiative für ein Gemeindereferendum im Herbst 2018 deutlich ab. Müller-Altermatt kommentierte trotzdem hoffnungsvoll: «Wirken tut sie vielleicht trotzdem: Die Auswirkungen unseres Legiferierens auf die Gemeinden wurden wieder einmal ins Bewusstsein gerückt».
Vom Ständemehr zum Gemeindemehr
Ein grösseres Mitspracherecht in Form eines Referendums gegen Kantonserlasse haben die Gemeinden aktuell in sieben Kantonen, Basel-Landschaft, Graubünden, Jura, Luzern, Solothurn, Tessin und Zürich. Die Anzahl Gemeinden, die für ein Zustandekommen des Referendums nötig sind, variiert von Kanton zu Kanton. Hannes Germann, SGV-Präsident und Schaffhauser Ständerat, würde sich ein Gemeindeveto auch für seinen Kanton wünschen. Noch lieber aber wäre ihm ein Gemeindemehr auf Kantonsebene, analog zum Ständemehr, das bei Abstimmungen über Verfassungsänderungen auf Bundesebene gilt. Vielleicht kein Zufall in einem Kanton, der vor ein paar Jahren über eine radikale Fusion zur Einheitsgemeinde abgestimmt hat. Diese «Abschaffung der Gemeinden» wurde zwar klar bachab geschickt, die moderatere Variante (Reduktion auf rund ein Drittel) erhielt indes rund 46 Prozent Zuspruch und wurde vor allem von der Stadt Schaffhausen unterstützt. «Das Gemeindemehr würde das grosse Gewicht der Städte beim Volksmehr ausgleichen», sagte Germann diesen Sommer in den «Schaffhauser Nachrichten» (SN).Tatsächlich stellten die Städte Schaffhausen und Neuhausen aktuell über 54 Prozent der Stimmberechtigten, schreiben die SN. «Die Landgemeinden könnten einem geschlossenen Ja der Zentren also nichts entgegensetzen.»
Anlauf für ein Gemeindemehr nehmen auch die Ausserrhoder Gemeinden Urnäsch und Stein. Weil die Kantonsregierung die Zahl der Gemeinden von 20 auf 4 reduzieren möchte, befürchten sie, dass künftig wenige grosse Orte über das Schicksal der kleinen Landgemeinden bestimmen. Die vier «Grossen» müssten zwar stramm gleich stimmen, um sich durchzusetzen, aber Urnäsch und Stein finden: Bei einer kantonalen Abstimmung soll nicht nur das Volksmehr, sondern auch die Mehrheit der Gemeinden erforderlich sein.
«Juristisch nicht umsetzbar, verfassungswidrig», halten Staatsrechtler dem Gemeindemehr entgegen. Kantonsverfassungen müssten gemäss Bundesverfassung von einer Mehrheit der Stimmberechtigten geändert werden können, und es gelte bei Sachabstimmungen das Prinzip, dass jede Stimme gleich viel zählen soll. Bewohner von bevölkerungsschwachen Gemeinden sollten also nicht überproportional viel Gewicht erhalten. Andere hingegen zitieren die Bundesverfassung so: Jeder Kanton gibt sich eine demokratische Verfassung. Ein Gemeindemehr sei darum nicht von vornherein verwehrt.
Unter Druck gerät heute aber auch das Ständemehr, das seit 1848 in der Bundesverfassung verankert ist. Jüngstes Beispiel ist die von Balthasar Glättli, Nationalrat der Grünen (ZH), eingereichte parlamentarische Initiative für ein qualifiziertes Ständemehr; nur zwei Drittel respektive 15,5 Stände sollen ein Volksmehr zu Fall bringen können. Die Begründung: 1848 wog eine Neinstimme aus Appenzell Innerrhoden bei einem Doppelmehrreferendum das 11fache einer Zürcher Neinstimme, heute hingegen das 44fache. Glättli argumentiert, das Föderalismusprinzip werde damit dem starken Bevölkerungswachstum in den städtischen Ballungszentren angepasst.
Die Nationalen Föderalismuskonferenzen bringen seit 2005 alle drei bis vier Jahre Fachpersonen und Praktikerinnen aus Politik, Wirtschaft und der öffentlichen Verwaltung zusammen, um das einzigartige Regierungssystem der Schweiz unter die Lupe zu nehmen und Perspektiven aufzuzeigen. Die Erklärung von Montreux 2017 hat das Verständnis für den Föderalismus und die Verbundenheit mit ihm unterstrichen. Die Erklärung von Basel 2021 bekräftigt dieses Verständnis und betont, dass sich der Föderalismus stetig weiterentwickelt. Der SGV wird zu dieser Entwicklung seinen Beitrag leisten, sich aber weiterhin hartnäckig für die Gemeindeautonomie einsetzen und daran arbeiten, dass das Bewusstsein für die kommunale Ebene steigt.
Informationen:
Föderalismus, kurz erklärt
Die Schweiz ist ein föderalistischer Staat. Das bedeutet, dass die Verantwortung zwischen dem Bund, den Kantonen und den Gemeinden aufgeteilt ist. Diese drei staatlichen Ebenen haben je eigene Verantwortungsbereiche, in denen sie ihre Aufgaben selber wahrnehmen. Bei gewissen Aufgaben arbeiten die drei Ebenen auch zusammen.
Der Bund nimmt grundsätzlich nur jene Aufgaben wahr, die für die ganze Schweiz einheitlich geregelt werden sollen. Die 26 Kantone bilden die zweite staatliche Ebene. Sie sind in vielen Bereichen eigenständig und können selber Gesetze machen, müssen sich aber an gewisse Regeln halten. Die Gemeinden bilden die dritte staatliche Ebene. Weil alle Kantone die Aufgaben ihrer Gemeinden selber festlegen, unterscheiden sich diese von Kanton zu Kanton. Grundsätzlich sind die Gemeinden für die Organisation vor Ort zuständig.
Befürtworter eines starken Föderalismus finden es wichtig, dass Entscheidungen dort getroffen werden, wo die Leute davon betroffen sind. Es entstehen dadurch auch neue Lösungsideen. Kritiker eines starken Föderalismus stören sich daran, dass die gleichen Aufgaben von Kanton zu Kanton anders gelöst werden.
Quelle: easyvote
«easyvote» gewinnt den Föderalismuspreis 2021
Der Föderalismuspreis 2021 der ch Stiftung geht an das Projekt easyvote. Mit seinen Angeboten fördert es das Interesse und die Partizipation der 18- bis 25-Jährigen an der kommunalen, kantonalen und eidgenössischen Politik. Der Preis wurde im Rahmen der Nationalen Föderalismuskonferenz und in virtueller Anwesenheit von Pascal Broulis, Präsident der ch Stiftung, überreicht.
easyote bietet verständlich aufbereitete Informationen viersprachig und über verschiedenste Kanäle an, insbesondere auch dank seiner starken Präsenz in den sozialen Medien. Mit seiner App «votenow» können sich Interessierte über die Themen kantonaler oder eidgenössischer Abstimmungen und Wahlen, aber auch über das Schweizer Politsystem im Allgemeinen informieren. Der Föderalismus ist unverzichtbarer Teil dieses Systems. Mit seinen drei staatlichen Ebenen bietet er den Bürgerinnen und Bürgern vielfältige Möglichkeiten, politisch mitzubestimmen: Sie können in ihrer Gemeinde über Schulgebäude mitentscheiden, die Mitglieder der Kantonsregierung wählen oder über Änderungen der Bundesverfassung abstimmen.
easyvote verbreitet seine Informationen auch über Broschüren und an Veranstaltungen. Mehr als 500 Gemeinden nutzen die Broschüren von easyvote zur Information ihrer Jung- und Neubürgerinnen und -bürger. Zudem produziert die Plattform Unterrichtsmaterialien für Schulen.
Der Föderalismuspreis ist eine Initiative der ch Stiftung. Die Ausschreibung für die Ausgabe 2022 startet im Herbst.