Ein Generaldienstleister, der von der Pflege über die Kindertagesstätte bis zur Bäckerei alles anbietet: Das ist das Konzept des Gesundheitszentrums Lindenhofs in Oftringen.

«Das war Mist, jetzt gehen wir neue Wege»

20.05.2021
5 | 2021

Der Lindenhof im Kanton Aargau hat sich in den letzten Jahren von einem klassischen Altersheim in ein Pionierprojekt für die Pflege und Gesundheitsversorgung der Zukunft entwickelt. Geschäftsführer Ralph Bürge erzählt, wie das gelungen ist.

In einem Satz: Was ist der Lindenhof?

Ralph Bürge: Der Lindenhof ist das Gesundheitszentrum in Oftringen. Was auch immer das heisst! (lacht)

Das schauen wir uns jetzt genau an. Wie entstand die Idee?

Bürge: Der Lindenhof war ein klassisches Altersheim, als 2008 die Stiftung entstand, deren Geschäftsführer ich bin. An meiner ersten Personalinformation sagte ich den rund 70 Mitarbeitenden: Ich möchte den Lindenhof so gestalten, wie ich ihn einst brauche, wenn ich dann so weit bin. Die damalige Vision entspricht dem heutigen Stand: ein Generaldienstleister, der von der Pflege über die Kindertagesstätte bis zur Bäckerei alles anbietet. Die Services können auch über eine persönliche Ansprechperson – einen Concierge – abgerufen werden.

Also stand die Vernetzung im Zentrum?

Bürge: Ja, das interdisziplinäre Zusammenarbeiten.

Was waren die wichtigsten Etappen in der Entstehung?

Bürge: Es liefen diverse Projekte parallel. In den Pflegeberufen sind mehrheitlich Frauen tätig, viele von ihnen sind Mütter. Es war uns wichtig, die guten Mitarbeiterinnen halten zu können. Also brauchten wie eine Lösung für die Betreuung ihrer Kinder. Gemeinsam mit den Mitarbeitenden bauten wir eine Kindertagesstätte auf. Sie musste selbsttragend sein. Heute sind rund 35 Prozent der Kinder von Angestellten – der Rest sind externe. Auch die Gastronomie wollten wir öffnen: Wir haben einen grossen Saal, eine teure Kücheninfrastruktur. Wir konnten erste Generalversammlungen von Vereinen abhalten. Ich spendierte ab und an den Apéro, das war beste Werbung. Mittlerweile hat sich das so etabliert, dass fast alle Veranstaltungen bei uns stattfinden.

Und im Gesundheitsbereich?

Bürge: Früher kamen die Physio- und Ergotherapeuten nur dann in den Lindenhof, wenn sie neben ihrer eigenen Praxistätigkeit Zeit hatten. Das passte uns nicht – unsere Kundinnen und Kunden hatten Anspruch auf bessere Verfügbarkeit. Das war der Anstoss, selbst eine Lösung zu finden. Genauso lief es auch in der Podologie und bei weiteren medizinischen Zusatzleistungen: Die Nachfrage war da, mit der Integration konnten wir die Qualität nach unseren Vorstellungen gestalten. Deshalb gründeten wir auch eine eigene Spitex-Organisation, um 24 Stunden an 365 Tagen im Jahr für die Bewohnerinnen und Bewohner da zu sein. Das kam bei den etablierten Institutionen zuerst gar nicht gut an, aber es war sinnvoll. Nach und nach haben wir diese Dienstleistungen auch Aussenstehenden angeboten, als eigene Profitcenter. Mittlerweile sind wir eine der grössten Spitex-Organisationen im Kanton.

Was war die Rolle der Gemeinde in den ersten Jahren?

Bürge: Anfänglich war das sehr schwierig. Die Gemeinde bekämpfte das Projekt. Ich war früher Gemeinderat gewesen und hatte immer meine eigene Linie. «Jetzt spinnt er total», wurde über mich gesagt. Man warf mir vor, ich würde auf Kosten der Bewohner meinen Hobbys nachgehen. Auch der Kanton hatte zu Beginn wenig Verständnis, dass nicht weiterhin alles den gewohnten Gang ging. Das änderte sich, als wir schwarz auf weiss belegen konnten, dass die Zusatzleistungen profitabler waren als die Altersbetreuung.

Und heute?

Bürge: Mittlerweile unterstützt uns die Gemeinde zu 100 Prozent was enorm wichtig ist. Die Einstellung zu innovativen Projekten in der Altersbetreuung hat sich gewandelt, dazu trägt auch das Modell 2030 Verbandes Curaviva bei, das in weiten Teilen dem Lindenhof entspricht.

Wie sieht Ihr Betrieb heute aus?

Bürge: Wir sind auf 260 Angestellte gewachsen. Wie 2008 haben wir noch immer 78 Pflegeplätze. Die Mietwohnungen haben wir in 28 Pflegewohnungen umgestaltet, die von der Spitex voll abgedeckt werden. Diese betreut wie gesagt auch immer mehr Menschen in ihrem Zuhause. Und wir haben Verträge mit den Besitzern von 450 Wohnungen in der ganzen Region. Sie bezahlen ihren Mietern – auch jungen Menschen und Familien – den Gönnerbeitrag unserer Stiftung. Dadurch profitieren diese von unserem Concierge, der ihnen kostenpflichtige Dienstleistungen organisiert. Vom Giessen der Pflanzen während der Ferien über den Frühlingsputz bis zu Caterings durch unsere Köche. Kürzlich haben wir auch noch einen Kinderhort eröffnet. Man kann also nun im Alter von drei Monaten in den Lindenhof kommen – und bleiben, bis man über 100 ist. (schmunzelt)

Gibt es vergleichbare Zentren in der Schweiz?

Bürge: Es gibt noch keine weiteren Betriebe mit derselben Vernetzung und Komplexität, die das ganze Angebot selbst betreiben. Kooperationen existieren – das kann eine Möglichkeit in Gemeinden sein, in denen schon viele Dienstleistungen vorhanden sind, aber noch keine Zusammenarbeit stattfindet.

Welche Rolle spielt die Digitalisierung mittlerweile?

Bürge: Eine grosse! Wir machen gerade dieses Jahr einen wichtigen Schritt, indem wir von der Spitex genutzte IT-Programm auch für die Langzeitpflege übernehmen. Dadurch werden im ganzen Betrieb alle Patientendaten über das Smartphone verwaltet. Bei uns ist also das elektronische Patientendossier vollständig umgesetzt. Das bringt Transparenz insbesondere in der Abrechnung mit der Gemeinde, mehr Effizienz und letztlich auch eine bessere Qualität für die Patientinnen und Patienten.

Setzen Sie auch schon Roboter in der Pflege ein?

Bürge: Noch nicht! (lacht) In unseren Überlegungen für die etwas fernere Zukunft spielen sie aber durchaus eine Rolle. Wenn Angehörige zuhause einen Teil der Pflege übernehmen, könnten Pflegeroboter beispielsweise mit Überwachungsfunktionen unterstützen. Als Ersatz für die menschliche Pflege sehe ich sie nicht.

Ihr Angebot ist attraktiv – können Sie die Nachfrage nach Pflegeplätzen überhaupt decken?

Bürge: Ja, das gelingt. Aber nur, weil sich der Fokus zunehmend von der stationären auf die ambulante Pflege verlagert. Immer mehr Menschen wollen zu Hause leben, solange es möglich ist. Wir eröffnen bei den Kunden zu Hause ein «virtuelles Heim» und bieten ihnen dort die ganze Betreuung, die sie brauchen – gesundheitlich, aber auch mit Essenslieferung und hauswirtschaftlichen Leistungen. In einem vom Kanton bewilligten Pilotprojekt rechnen wie das mit der Krankenkasse auch genauso ab, als würde der pflegebedürftige Mensch bei uns im Lindenhof in einem stationären Bett liegen.

Ist das die Zukunft der Pflege?

Bürge: Ja, davon bin ich überzeugt. Die Bettenbunker, wie sie leider heute noch vielerorts gebaut werden, werden in 20 Jahren leer stehen. Zu Hause zu sein, solange es geht, ist schon jetzt der Wunsch sehr vieler Menschen. In den kommenden Generationen, die heute digital eine Vielzahl von Leistungen von zu Hause aus abrufen, wird das noch stärker der Fall sein. Dank der technologischen und medizinischen Entwicklung haben wir die Möglichkeit dazu. Der Lindenhof leistet hier Pionierarbeit.

War die starke Öffnung und Interaktion mit der Aussenwelt in der Covid19-Pandemie ein Risiko?

Bürge: Die vulnerablen Personen blieben noch stärker daheim, unsere externe Betreuung war daher wichtiger denn je. Beispielsweise nahm der Mahlzeitendienst massiv zu. Dank konsequenten Schutzkonzepten konnten wir das die ganze Zeit aufrechterhalten.

Im Jahr 2008 hatten Sie eine Vision, die nun umgesetzt ist. Was ist Ihre neue Vision für die ferne Zukunft?

Bürge: Es wird in 20, 30 Jahren viel mehr Kooperation und deutlich weniger Einzelinstitutionen geben. Gefragt sind «Hotspots», welche die effiziente Steuerung sicherstellen. Hier sind die Gemeinden stark gefordert. Sie müssen mit dem Silodenken aufhören und die spitalexterne Pflege und Versorgung miteinander verschmelzen. Die Bündelung der Anbieter und Professionen erhöht die Qualität und senkt die Kosten. Wir müssen diese Landschaft neu aufbauen.

Sie erarbeiten derzeit ein Projekt mit dem Verein Myni Gmeind, der Gemeinden und Regionen bei der Digitalisierung unterstützt (siehe Box). Was ist das Ziel?

Bürge: Unsere Idee ist, Gemeinden zu sensibilisieren und zu befähigen, in die aufgezeigte Richtung zu denken und zu arbeiten.

Was ist Ihr wichtigster Rat nach 13 Jahren Lindenhof?

Bürge: Mut haben! Nach vorne schauen. Alte Zöpfe abschneiden. Hinstehen und sagen: Das war Mist, jetzt gehen wir neue Wege.

Der Verein «Myni Gmeind» sucht eine Pilot-Gemeinde

Sind Sie interessiert, in Ihrer Gemeinde ein innovatives Projekt zum Thema «Leben & Wohnen im Alter» auf Basis der Lindenhof-Erfahrungen zu starten und Vernetzung, Digitalisierung und Kooperationen voranzutreiben?

«Myni Gmeind» sucht gemeinsam mit der Association Spitex privée Suisse, GERONTOLOGIE CH und der Stiftung Lindenhof eine Pilotgemeinde. Interessenten können sich gerne per Mail an info@mynigmeind.ch wenden, um die detaillierten Informationen zu den Rahmenbedingungen zu erhalten.

Der 2018 gegründete Verein «Myni Gmeind» unterstützt Gemeinden und Regionen mit Digitalisierungsprojekten auf dem Weg zum «smart village» und zur «smart region». Der Schweizerische Gemeindeverband (SGV) ist seit 2019 enger Partner des Vereins. Verschiedene Firmen und Verbände engagieren sich in Projekten und mit finanzieller Unterstützung.

Noé Blancpain
Verein «Myni Gmeind»
Co-Geschäftsführer

«Die Bettenbunker, wie sie leider heute noch vielerorts gebaut werden, werden in 20 Jahren leer stehen.»

Ralph Bürge, Geschäftsführer des Gesundheitszentrums Lindenhof in Oftringen (AG)