Bergdörfer engagieren sich für ihre Jugendlichen
Orsières und Liddes (VS) haben 2019 gemeinsam das Label «Jugendfreundliches Bergdorf» erhalten. Roxanne Giroud ist soziokulturelle Animatorin FH und Verantwortliche für die Jugendarbeit und schildert ihre Sicht auf das Label.
Roxanne Giroud, können Sie kurz die Walliser Gemeinden Orsières und Liddes beschreiben?
Roxanne Giroud: Die beiden Gemeinden gehören zum Bezirk Entremont. Der tiefste Punkt, der Weiler La Duay, liegt auf 800 m ü. M., der höchste Punkt, der Point d’Argentière, auf 3902 m ü. M. Die Gemeinden kommen zusammen auf rund 4000 Einwohner, dies bei einer Fläche von 225 km2. Also eine steile und wilde Angelegenheit! Die Dörfer haben eine gemeinsame Grenze mit Frankreich und Italien. Ich habe das Gefühl, dass die Mentalität hier von den Nachbarländern geprägt wird und man eine gewisse Internationalität spüren kann. Der Tourismus spielt bei uns natürlich eine wichtige Rolle, vor allem der Sommertourismus.
Wie ist die Jugendarbeit organisiert?
Der «Service d’animation socioculturelle du district d’Entremont» (ASDE) ist für die Jugendarbeit zuständig. Drei fest angestellte Personen und ein Lernender oder eine Lernende besetzen insgesamt 250 Stellenprozente. Ich wurde im Jahr 2016 von den Gemeinden Orsières und Liddes zu 20 Prozent angestellt, wir konnten also seither ziemlich ausbauen. Eine Person für die Jugendarbeit anzustellen, war damals für die Region pionierhaft. Anfügen muss ich vielleicht, dass meine Stelle nicht ausschliesslich durch die Jugendarbeit, sondern allgemein durch die Förderung des sozialen Zusammenhalts definiert war. So konnten sich alle Bevölkerungsgruppen angesprochen fühlen, was für die Akzeptanz sehr wichtig war. Die Jugendvereine spielen hier bei uns eine wichtige Rolle. Auch die Schulen sind gute Partner für die Jugendarbeit.
Wer hat die Labelanerkennung lanciert?
Basile Darbellay, Gemeinderat von Liddes, ist 2018 auf mich zugekommen, als er in der SAB-Zeitschrift «montagna» einen Artikel über das Label «Jugendfreundliche Bergdörfer» gelesen hat. Wir haben dann das Projekt gemeinsam mit einem motivierten Gemeinderat von Orsières durchgebracht. Dass die Idee nicht von mir, sondern aus den Gemeinderäten gekommen ist, hat die Sache stark vereinfacht.
Konnte die Labelanerkennung aus Ihrer Sicht die Entwicklung der Gemeinden positiv beeinflussen?
Ich denke schon. Das Label hat vor allem eine höhere Verbindlichkeit geschaffen. Es ersetzt in einem gewissen Sinn ein «Jugendreglement», was nicht immer einfach zu erstellen ist. Die Gemeinden sind nun angehalten, sich für ihre junge Bevölkerung zu engagieren, auch wenn es beispielsweise Wechsel in den politischen Gremien geben sollte.
«Die Gemeinden sind nun angehalten, sich für ihre junge Bevölkerung zu engagieren, auch wenn es beispielsweise Wechsel in den politischen Gremien geben sollte.»
Hat sich auch etwas im Umgang mit den Jugendlichen verändert?
Ja, sicher. Allgemein werden die jungen Leute jetzt als Teil der Gemeinschaft angesehen und auch nach ihrer Meinung gefragt. Natürlich gab es hie und da kritische Stimmen. Wir haben aber viel in den intergenerationellen Austausch investiert. Im Konkreten wurden die meisten Begegnungen mit den Jugendlichen durchwegs positiv erlebt. Was mich auch wichtig dünkt, ist, dass das Label, so, wie es aufgebaut ist, eine andere Gruppe Jugendlicher anspricht als beispielsweise die Jugendvereine. Bei uns engagieren sich fast ausschliesslich Mädchen in der Gruppe «Jugendforum». Es wird den weniger extrovertierten Charakteren eine Stimme gegeben, was ich als sehr positiv empfinde.
Was für Auswirkungen hatte das Label auf die Jugendarbeit?
Ein schöner Nebeneffekt des Labels war, dass gewisse Aktivitäten, die schon immer gemacht wurden, plötzlich einen neuen Wert erhalten haben. Eine Lehrerin hat zum Beispiel regelmässig mit ihren Schülern in einem alten Holzofen Brot gebacken. Mit der Zeit hat die Motivation allerseits etwas nachgelassen. Dank dem Label wurde das Brotbacken nun zu einer Aktivität, die den intergenerationellen Austausch fördert, und hat damit ein neues Existenzrecht erhalten.
Konnte auch bei der Infrastruktur etwas verbessert werden?
Ja, es wurde in den letzten Jahren viel gemacht. Erst letztes Jahr konnten wir den Halbstundentakt für den Zug in Orsières einführen. Wichtig war auch, dass die Dorfschule in Liddes erhalten bleiben konnte und dass die Gemeinde in den Bau einer Tagesstruktur, das heisst einer Krippe und einer Tagesschule, investiert hat.
Was bleibt noch zu tun?
Mir kommen spontan zwei ungelöste Probleme in den Sinn. Das erste betrifft die Mobilität der Jugendlichen. Wenn sie in den Ausgang wollen, können sie nicht auf den öffentlichen Verkehr zählen. Wir sind daran, eine Taxilösung oder Mitfahrgelegenheiten mittels einer App zu organisieren, um die Heimfahrt sicherer zu gestalten. Ein schwieriges Thema für mich ist auch das Mobbing von Kindern und Jugendlichen, die nicht ganz ins Schema passen. Dieses Problem ist in den abgelegenen Regionen vielleicht noch akzentuierter als in den Städten. Es sind dann genau diese Jugendlichen, die die Dörfer so rasch wie möglich verlassen und sicher nicht mehr zurückkommen wollen, da sie das Dorfleben immer als negativ erlebt haben. Vielleicht ist es auch deshalb so schwierig, gewisse Denkmuster zu ändern, weil immer alles Andersartige ausgeschlossen wird. Ich denke, hier müsste man auch ansetzen.
Das Label «Jugendfreundliche Bergdörfer»
Um der Abwanderung entgegenzuwirken, hat die Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für die Berggebiete (SAB) im Jahr 2015 das Label «Jugendfreundliche Bergdörfer» ins Leben gerufen. Der Einbezug der Jugendlichen und die Integration in den Lösungsfindungsprozess stehen bei der Labelvergabe im Mittelpunkt. So sind es denn auch die Jugendlichen selbst, organisiert im Jugendforum der SAB, die das Label vergeben. Aktuell sind 30 Gemeinden mit dem Label ausgezeichnet.
Stimmen der Jugendlichen
Die 26-jährige Murielle lebt in Orsières (VS). Sie möchte nicht weg: «Die Natur, die Schönheit der Landschaft, die Nähe zu meiner Familie, die Tatsache, dass ich alle im Dorf kenne und mich wohlfühle, das sind alles Gründe, warum ich nicht an einem anderen Ort wohnen möchte – trotz der Entfernung zu meinem Arbeitsplatz.» Sie fügt an: «Jedes Mal, wenn ich am Abend heimfahre, sage ich mir, dass es sich lohnt, diesen langen Arbeitsweg auf sich zu nehmen.» Auch Axel, ebenfalls 26 Jahre alt, lebt in einem Walliser Bergdorf, in Lens. Er engagiert sich im Jugendforum der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft für Berggebiete, das auch das Label «Jugendfreundliche Bergdörfer» vergibt. Er sagt: «Das Jugendforum ist für mich bereichernd und zeigt mir die geopolitischen Herausforderungen innerhalb der Schweiz auf. Ich habe die Gelegenheit, viele Leute kennenzulernen, und kann mich gleichzeitig für die Jugend im Berggebiet einsetzen, was mir sehr am Herzen liegt.»