Bauen und Wohnen nach dem Sonnenstand ausrichten
Am umweltfreundlichsten ist es, keine Heizung zu haben. Das finden Sascha
Schär und Regula Trachsel . Deshalb haben sie nach diesem Ansatz vor sieben Jahren ein Haus gebaut, in dem sie seither leben und arbeiten.
Heute sind Häuser standardmässig mit einer Zentralheizung ausgestattet – unbeheizte Räume empfinden die Bewohnerinnen und Bewohner in der Regel als nicht zumutbar. Mit warmem Wasser betriebene Zentralheizungen wurden indes erst zu Beginn des letzten Jahrhunderts, nach dem 1. Weltkrieg, bei Wohnhäusern eingebaut. Noch im Mittelalter wärmte man sich an offenen Kaminen; ab dem späten Mittelalter gab es hierzulande Kachelöfen in höfischen und gehobenen städtischen Haushalten. Ab dem 16. Jahrhundert stellten dann auch weniger betuchte Haushalte in der Nordost- und der Zentralschweiz von der Kamin- auf die Ofenheizung um. Vom Küchenherd aus wurde die Stubenbank aus Sand- oder Speckstein erwärmt. Gusseiserne Zimmeröfen, mit denen man auch andere Wohnräume als Küche und Stube beheizen konnte, fanden schliesslich ab dem 18. Jahrhundert Verbreitung.
Verzicht auf die Heizung
Und nun kommt ein junges Paar daher und verzichtet ganz und gar auf eine über Jahrhunderte entwickelte technische Innovation, zumal in einer Region, die nicht gerade für milde Temperaturen bekannt ist. Sascha Schär empfängt den Besucher an einem Vormittag Mitte August vor seinem Wohn- und Bürogebäude in Zweisimmen im Berner Oberland. Roh anmutende Holzlatten verkleiden das fünfgeschossige Gebäude, das auf einem fünfeckigen Grundriss steht. Die Form fällt unter etlichen bloss zweigeschossigen Gewerbebauten, die grosse Flächen einnehmen, auf.
Der Architekt Sascha Schär und seine Lebenspartnerin, die Bauingenieurin Regula Trachsel, haben den Holzbau gemeinsam entworfen und aus diesem Anlass ihre beiden Firmen n11architekten und n11bauingenieure gegründet. Sie bewohnen die Maisonette-Wohnung im vierten und fünften Geschoss, im zweiten und dritten führen sie ihre Büros, und im Parterre ist ein Coworking Space eingerichtet.
Ob sie denn häufig frieren oder schwitzen würden, will der Besucher wissen. Die Frage muss Sascha Schär schon oft gehört haben, aber er erklärt geduldig und engagiert, wie es funktioniert, dass ihr Gebäude sommers wie winters angenehm temperiert ist, auch auf dieser Höhe, auch in diesem Klima. Zum einen, so Schär, hätten sie ihr Haus auf den Sonnenstand ausgerichtet und die Fenster entsprechend in den Fassaden platziert. Zum anderen verliessen sie sich auf die thermischen Eigenschaften von Beton, Fichtenholz und Stampflehm. «Wir bauen mit der Sonne», bringt er es auf den Punkt.
Fünfeckiger Grundriss: mehr Sonnenenergie aufs Haus
An der Südfassade fallen die grossen Fenster auf, die zwar genügend Licht hereinlassen, aber nicht viel Wärme, da im August die Sonne an diesem Vormittag hoch steht. Beim Gespräch in seinem Büro hat Schär das Fenster an der schattigen Nordfassade geöffnet, so dass frische und kühle Luft in den Raum kommt. «Den Grundriss hatten wir anfangs viereckig geplant, später haben wir die Ostfassade dann etwas gegen Süden abgewinkelt, damit sie im Winter noch etwas Sonne aufnehmen kann – so entstand der fünfeckige Grundriss», sagt Schär. Entsprechend gibt es an der Ostfassade ein grosses Fenster, während es an der Nord-, der Nordost- und der Westfassade kleinere oder gar keine Fenster gibt.
Das Gebäude nimmt allein durch seine Position im Talboden sowie die Platzierung und Grösse der Fenster im Winter viel Sonne auf, während es im Sommer trotz den grossen Fenstern in der Südfassade wenig Energie absorbiert: «Die Sonne geht im Sommer hoch übers Dach und sinkt dann im Westen, im Winter aber steht die Sonne tiefer und bringt durch die Fenster der Südfassade viel Wärme ins Haus», erklärt Schär. Immerhin sechs Sonnenstunden bekommt Zweisimmen winters ab – die Berge östlich und westlich davon werfen mit ihren Höhen von 2000 bis 2500 Metern über Meer nicht viel Schatten.
Klotzen statt kleckern: Masse speichert die Sonnenenergie
Neben der Ausrichtung des Gebäudes gibt es einen zweiten, nicht minder wichtigen Faktor, damit das Haus ohne Heizung auskommt: Die Auswahl der Materialien und deren Masse. Die Sonnenwärme dringt bis zu zehn (Beton, Stampflehm) beziehungsweise vier Zentimeter Tiefe (Fichtenholz) ein.
Die tragende Struktur ist aus Fichtenholz konstruiert: Auf den Holzträgern der dreissig Zentimeter dicken Aussenwände und den Deckenbalken ruhen die vorfabrizierten Deckenplatten aus Beton, auf denen eine Korkschicht und insgesamt vierzig Tonnen Stampflehm aufgetragen sind. Schär lenkt den Blick des Besuchers auf die dicht gestaffelten Balken an der Decke: «So bringen wir mehr Masse in die Räume, und die Sonne erwärmt nicht bloss wenige Balken, sondern eine ganze Reihe davon.» Die Balkenlage sieht also nicht nur gut aus, sondern hat auch eine thermische Funktion: Wäre die Balkendecke verkleidet, könnte das Holz die Sonnenwärme nicht aufnehmen und über Nacht wieder abgeben. Letzteres gehört zum Kalkül: Wird die Raumluft kühler als die Materialien, geben diese die gespeicherte Wärme wieder ab – etwa an Tagen, an denen die Sonne nicht scheint, oder eben in der Nacht.
«Im Winter haben wir von Mitte Dezember bis Ende Januar das schlechteste Wetter im Jahr, aber auch dann gibt es oft drei bis vier Sonnentage hintereinander. Diese reichen, um unser Haus wieder aufzuwärmen», sagt Schär. Über Nacht verliert das Gebäude im Schnitt bloss 0,5 Grad Celsius, so dass Schär und Trachsel auch Phasen von schlechtem Wetter gut überbrücken können, zumal diese Phasen nicht lange dauern: «Mehr als drei Tage schlechtes Wetter hintereinander gibt es hier meist nicht.»
Vorbild Simmentaler Bauernhäuser
Schär und Trachsel konnten in den letzten Jahren einige Wohnhäuser planen, die keine herkömmliche Zentralheizung, sondern bloss einen Ofen haben, der sowohl zum Kochen als auch zum Heizen taugt. Als Vorbild dienten alte Simmentaler Bauernhäuser, wo der Stubenofen von der Küche aus eingefeuert wird. Historische Anleihen machen Schär und Trachsel auch bei ihrem jüngsten Projekt, einem bestehenden Bau im Berner Oberland. Sie bauen einen Hypokaust ein, eine Warmluftheizung, wie sie die Römer einst eingeführt hatten und hierzulande vor allem in städtischen Gebieten vom 1. bis 4. Jahrhundert n. Chr. verbreitet war. In diesem Bauernhaus wird die warme Luft via Tonröhren über zwei Geschosse auf zwei Wände verteilt. So suchen Schär und Trachsel für jede Bauaufgabe eine Lösung, die mit wenig Technik aus- und dem Klima zugute kommt.
Energiestadt Zweisimmen
Im Juni 2018 hat Zweisimmen das Label «Energiestadt» verliehen bekommen. Voraussetzung dafür war das Energieleitbild der Gemeinde, das in sechs Handlungsfeldern beschreibt, wo Handlungsbedarf besteht. Sie hat sich darin konkrete Ziele gesetzt: So will die Gemeinde bis 2025 kein kommunales Gebäude mehr fossil beheizen und ebenfalls bis 2025 sechs Quadratmeter Nutzfläche pro Einwohnerin und Einwohner für die Erzeugung von Solarstrom und Solarwärme bauen. Toni-Beat Romang, seit letztem Jahr Bauverwalter von Zweisimmen, erwähnt zwei Projekte, mit denen die Gemeinde den Ausstoss von Treibhausgasen verringert hat: 2019 hat sie das Gebäude der Gemeindeverwaltung energetisch saniert und ein Jahr vorher auf dem Dach der neuen Simmental Arena, die als Feuerwehrmagazin und Halle für Märkte und Veranstaltungen dient, eine Photovoltaikanlage erstellt. Diese deckt nicht nur den Strombedarf der Halle selbst, sondern teilweise auch denjenigen der angrenzenden Schule. Seit 2016 verfügt Zweisimmen über einen Energiefonds, mit dem sie den Bau von Anlagen für erneuerbare Energien bei Gebäuden fördert. Jährlich stehen dafür 30 000 Franken zur Verfügung.