AR-Visualisierungen – wie hier in Glarus – sind bei der Bevölkerung populär.

Augmented Reality: Revolution für die Raumplanung

02.12.2022
12 | 2022

Virtuell durchs zukünftige Wohnquartier flanieren statt Baupläne studieren: Augmented Reality machts möglich. Ein Forschungsteam der HSLU lotet gemeinsam mit Gemeinden und Unternehmen das Potenzial der Technologie aus.

Grosse Bauvorhaben haben es in der Schweiz mitunter schwer: Hier scheitert das geplante neue Fussballstadion an der Urne; da verzögert eine Einsprache die vom Souverän abgenickte Überbauung. Nun wäre es einfach, auf Vertreterinnen von Partikularinteressen und Neinsager zu schimpfen. Doch Designforscher Tobias Matter von der Hochschule Luzern (HSLU) weiss, dass es nicht so simpel ist: «Meistens bremsen die Leute ein Projekt nicht aus Böswilligkeit, sondern weil sie sich schlecht informiert und mit ihren Anliegen nicht ernst genommen fühlen.»

Dabei kommt es zum sogenannten Beteiligungsparadoxon: In der Planungsphase, zu Beginn eines Bauprojekts, hätte die Anwohnerschaft eigentlich den grössten Spielraum, Einfluss zu nehmen. Gleichzeitig sei da aber der Abstraktionsgrad meistens noch zu hoch, erläutert Matter. «Wie genau sieht die geplante Lärmschutzmauer aus? Wie viel Grünfläche fällt der neuen Turnhalle zum Opfer? Laien fällt es oft schwer, sich anhand von technischen Plänen vorzustellen, wie Bauprojekte in der Realität aussehen werden. Eine Einsprache scheint dann der einzige Weg für eine Einflussnahme.»

Forschende rücken dem Paradox zu Leibe

Design- und Informatikforschende der HSLU arbeiten derzeit unter Tobias Matters Projektleitung daran, das Beteiligungsparadoxon aufzulösen. Das Mittel der Wahl: Augmented Reality (AR). Die Technologie erlaubt es, reale Gegenstände und Umgebungen um digitale Inhalte zu ergänzen und diese auf Tablets und Smartphones zu projizieren. «Solche Visualisierungen machen Abstraktes nachvollziehbar, weil sie Betrachterinnen und Betrachtern das Gefühl vermitteln, die digitalen Objekte wirklich vor sich zu sehen», erläutert Matter.

Damit sei AR bestens dazu geeignet, die Bevölkerung nicht nur transparenter über anstehende Bauprojekte zu informieren, sondern sie bereits von Beginn an zur Mitwirkung zu motivieren – dies insbesondere jüngere Bevölkerungsgruppen, die sich bisher wenig von Beteiligungsprozessen angesprochen fühlten. Je aktiver Betroffene in die Planung involviert sind, so der Gedanke, desto breiter ist ein Projekt abgestützt und desto unwahrscheinlicher wird ein Scheitern an der Urne oder aufgrund von Einsprachen.

Mal eben den Baum verpflanzen

Folgendes Beispiel zeigt auf, wie die AR-Technologie bei der Raumplanung zum Einsatz kommen kann: Eine Gemeinde möchte beim Bahnhof eine neue Velostation errichten und plant einen Informationsanlass für die Bevölkerung vor Ort. Die HSLU gestaltet zu diesem Zweck die Velostation als 3-D-Modell für eine AR-Umgebung. Am Infoanlass erhalten die Teilnehmenden Tablets mit der AR-Anwendung ausgehändigt. Auf dem Display erscheint via Kamerafunktion die reale Umgebung, die mit der 3-D-Visualisierung der geplanten Velostation überlagert wird. Die Teilnehmenden können sich frei um das digitale Modell bewegen und es aus verschiedenen Perspektiven betrachten, so, als wäre es wirklich da.

«Je nach Phase des Projekts kann es sich bei einem Modell für Augmented Reality um eine simple Skizze oder um eine detaillierte Darstellung des geplanten Bauwerks handeln», sagt Tobias Matter. Neben der Form würde dann auch ein Eindruck der Farbe und der verwendeten Materialien geliefert. So könnte die AR-Anwendung verschiedene Bauvarianten der Velostation zeigen. Sogar interaktive Elemente sind möglich, etwa digitale Bäume und Sitzgelegenheiten, die sich verschieben lassen oder deren Form man verändern kann.

Beispiel Glarus: Hier spielt die Musik

Das Kartoni-Quartier ist ein Entwicklungsschwerpunkt der Stadt Glarus. In den nächsten Jahren soll auf dem ehemaligen Industrieareal ein neues Quartier mit Wohn- und Gewerbeflächen entstehen. Forschende der HSLU arbeiten derzeit mit der Gemeinde an der Planung einer neuen Musikschule am Rande des Quartiers, die auch als Kulturzentrum fungieren soll. Das AR-Team unterstützt die Planerinnen und Planer der Immobilienfirma Sutter Projects bei der Gestaltung des Kartoni-Parks, der das östliche Tor zum Quartier bildet. In einem Workshop im Mai 2022 brachten Anwohnerinnen und Anwohner ihre Gestaltungsideen ein; vom Pavillon bis zum Mehrgenerationen-Spielplatz. Die Design- und Informatikforschenden setzen die dabei entstandenen Skizzen und Kartonmodelle bis zum nächsten Workshop Ende Juni als AR-Umgebung um. «Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer erhalten so ein gutes Bild davon, wie ihre Ideen im Raum wirken und ob sie funktionieren würden oder nicht», sagt Projektmitarbeiter und Informatikforscher Dario Lanfranconi. Die Teilnehmenden sollen ihr Feedback zudem direkt in die AR-Umgebung einfügen können.

Mehr Demokratie in der Raumplanung wagen

Das Team von Tobias Matter vereint das Know-how aus der Forschungsgruppe Visual Narrative, die sich auf die Vermittlung von Inhalten in digitalen und mobilen Medien fokussiert, und vom Immersive Realities Research Lab. Das Lab erforscht Anwendungsmöglichkeiten von Augmented und Virtual Reality. Punktuell liefern zudem Forschende der HSLU-Departemente Technik & Architektur, Soziale Arbeit und Musik ihre Expertisen. Die Projekte werden vom Interdisziplinären Themencluster (ITC) Raum und Gesellschaft unterstützt. Mit den ITCs bündelt die Hochschule Luzern das Fachwissen von Forschenden über die Departementsgrenzen hinweg. Tobias Matter selbst forscht bereits seit Jahren an der Schnittstelle zwischen analog und digital. Er ist überzeugt, dass es ohne diesen inter- und transdisziplinären Ansatz nicht geht. Matter: «Bei raumplanerischen AR-Projekten ist es nicht das Ziel, hübsche digitale Umgebungen zu programmieren, sondern diese auch einem nicht technikaffinen Publikum zugänglich zu machen. Augmented Reality kann so im besten Fall die gesamte Raumplanung demokratischer gestalten.»

Martin Zimmermann
Hochschule Luzern