Diese Trockenmauer schützt den Weiler Steinbergen bei Realp (UR); im Bild der Urner Denkmalpfleger Thomas Brunner.

Ablenkmauer und Spaltkeil: Wie man im Urserntal Lawinen die Stirn bot

10.10.2024
10 | 2024

Vor Lawinen schützten sich die Bewohnerinnen und Bewohner der Alpen bereits im Mittelalter. Im Urserntal im Kanton Uri erfüllen jahrhundertalte Schutzbauten noch heute ihren Zweck. Die steinernen Bauwerke zeugen von Wissen um Gefahren und einer überlebenswichtigen Bautradition. Ein Streifzug vor Ort mit dem Urner Denkmalpfleger Thomas Brunner.

Danach befragt, wie sich die Bewohnerinnen und Bewohner des Urserntals einst vor Naturgefahren geschützt haben, sagt Thomas Brunner: «Sie haben ein Kreuz aufgestellt.» Ihr Glaube liess sie hoffen, so der Denkmalpfleger des Kantons Uri, dass Gott sie vor Unglück bewahrte. Allerdings wussten sie sich auch anders zu helfen: Einige Bauwerke, die schon vor und nach 1800 entstanden, zeugen davon, wie sie ihr Hab und Gut schützten. Diese Bauten sind an einem Sommertag im August das Ziel unseres Ausflugs. Thomas Brunner weiss, wo sie sich befinden, hat er doch in der angesehenen Reihe «Die Kunstdenkmäler der Schweiz» den Band über das Obere Reusstal und Ursern beigesteuert. Der Kunsthistoriker setzt sich in Andermatt hinters Steuer seines Dienstwagens.

Wir machen zuerst in Zumdorf halt, einem Weiler zwischen Hospental und Realp. Das älteste Gebäude ist das «Walserhaus». Auf dem gemauerten Sockel bilden liegende Holzbohlen die Aussenwände. Im Gegensatz zu den anderen Fassaden ist die Giebelwand talaufwärts gemauert. Die einst bloss in Holz ausgeführte Wand wurde in den 1850er-Jahren mit einer rund 40 Zentimeter dicken Natursteinmauer verstärkt – womöglich nach der Lawine von 1851, die zwei der vier Wohnhäuser im Weiler zerstörte.

Noch heute sind Lawinen und Hochwasser die Naturkräfte, mit denen das Urserntal stets rechnet. Im Januar 1951 brachte eine Lawine in Andermatt am Fuss des Kirchbergs Tod und Zerstörung. Dies, obwohl man 1914 begonnen habe, am Kirchberg aufzuforsten. «13 Menschen verloren damals im Ortsteil Altkirch ihr Leben», sagt Jörg Martin. Mit dem Geschäftsführer von Andermatt sprach der Autor nach seinem Ausflug. Früher habe es mehr geschneit, auch sei der künstliche Schnee kompakter. Daher gebe es eher weniger Lawinen, sagt er. «In einem Lawinenwinter erfüllen die alten Schutzbauten aber noch ihren Zweck.»

Rund 350 Jahre standgehalten

Kurz vor Realp lenkt Thomas Brunner das Auto auf einen linksufrigen Feldweg oberhalb der Furkareuss. Er geht zu Fuss voran zwischen gemähten Wiesen zur Kapelle Sankt Josef auf der Lieg von 1685. Sie steht im offenen Gelände, die Traufseiten stehen in der Falllinie des Hangs, der steil ansteigt bis zu den rund 3000 Meter hohen Gipfeln Blauberg und Müeterlishorn. Hangaufwärts sind Felsbrocken in der Wiese zu sehen. Der Baumeister der Kapelle hat sich denn auch einen besonderen Bau zu ihrem Schutz einfallen lassen: Ein massiver Spaltkeil aus Feldsteinen bildet an der Rückseite ein haushohes Bollwerk. Er soll Lawinen und Geröll aufhalten und links und rechts am Gotteshaus vorbeilenken. «Eine Lawine hat den Dachreiter der Kapelle bereits 1695 hinweggefegt», sagt Brunner. Um den Schutz zu verbessern, hat man den Spaltkeil nach einer Lawine 1975 um eine Schicht Quadersteine erweitert und nach einer weiteren Lawine 1999 ertüchtigt.

Der erneuerte Spaltkeil schützt die Kapelle Sankt Josef auf der Lieg bei Realp (UR) von 1685 seit über drei Jahrhunderten vor Lawinen.

Betrachtung des Spaltkeils von Nahem.

Unser Weg führt von der Kapelle reussabwärts zum Weiler Steinbergen, wo eine massive Mauer in Trockenbauweise und ein Spaltkeil die Gebäude gegen den Hang abschirmen. Unfassbar viel Mühe muss es gekostet haben, mit blosser Muskelkraft die mannshohe und rund drei Meter dicke Mauer aufzuschichten. «Die Bauernfamilien haben ihre Wiesen regelmässig ‹geschönt›», sagt Brunner. «Steine und Felsbrocken, die die Lawinen mitbrachten, schleppten sie im Frühling zum Wiesenrand oder verwendeten sie für Schutzbauten.»

«Felsbrocken, die die Lawinen mitbrachten, schleppten sie zum Wiesenrand oder verwendeten sie für Schutzbauten.»

Thomas Brunner, Denkmalpfleger Kanton Uri

«Bäume fällen unter Strafe untersagt»

Unsere letzte Station ist Realp, das letzte Dorf vor dem Furkapass. 1848 sei der nordwestlich gelegene Ortsteil abgebrannt und neu aufgebaut worden, erzählt der Urner Denkmalpfleger. Wir stehen dort in einer Gasse, die links und rechts von Häusern gesäumt ist. Hangaufwärts steht eine Reihe ehemaliger Ställe, unterhalb davon befinden sich Wohngebäude. Im Fall einer Lawine sollten die steinernen Ställe deren Wucht standhalten und so die Wohnhäuser vor der Zerstörung bewahren. Hier gehen städtebaulicher und architektonischer Schutz Hand in Hand.

Zurück in Andermatt zeigt Thomas Brunner auf den Gurschenwald oberhalb des alten Dorfkerns. «Dieser Bannwald ist schon für 1397 nachgewiesen», sagt er. «Das Fällen von Bäumen war zum Schutz von Menschen und Gebäuden mit einem Bann belegt – es war unter Strafandrohung untersagt.» Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts begann man in der Schweiz, an den steilen Talflanken wieder Schutzwälder anzupflanzen. Man knüpfte damit an Massnahmen an, die sich bereits im Mittelalter bewährt hatten. Auch im Urserntal: «Den Sankt-Anna-Wald bei Realp hat man in den 1870er-Jahren angepflanzt», sagt Brunner.

Naturgefahren im Urserntal

Das Urner Hochtal auf rund 1500 Metern über Meer ist Hochwassern und in geringerem Mass Murgängen und Steinschlägen ausgesetzt. Im Winter geht vom Schnee Gefahr aus. Gemäss Gefahrenkarte des Kantons sind manche Gebiete von Realp und Andermatt erheblich gefährdet: Starke Lawinen können hier häufig zu Tal stürzen.

Lukas Kistler
Freier Mitarbeiter